Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (81)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Nicht bloß gab ich ihr alles Geld, das ich bei mir hatte, ich schwor auch, sie aus diesem Jammer zu befreien und ihr eine menschenwürdige Existenz zu verschaffen. Es gelang mir, von meinem Vater eine größere Summe zu erhalten, hundertzwanzig oder hundertdreißig Mark, wenn ich mich recht erinnere, damit kaufte ich das Mädchen los, mietete ein Zimmer in der Vorstadt und brachte sie hin. Ich besuchte sie jeden Tag, jede freie Stunde widmete ich ihr, mein ganzes Taschengeld stellte ich ihr zur Verfügung, wählte passende Bücher für sie aus, meist hoch-literarische, las ihr vor, unterhielt mich mit ihr über das, was sie selber gelesen hatte, und bildete mir in meiner Torheit ein, ich könne sie erziehen, veredeln, der menschlichen Gesellschaft geläutert zurückgeben. Sie war übrigens ein nettes Ding, ziemlich hübsch, sehr jung noch und sicher nicht schlecht. Es herrschte keinerlei sinnliche Beziehung zwischen uns, ich war darin so streng, daß ich es vermied, ihre
Hand zu berühren, nicht etwa weil sie mir gleichgültig war, o nein, ich war sicher, sie zu lieben, und ich wollte sie überzeugen, daß es eine ,reine Liebe‘ war. Immer wieder sprach ich ihr von der ,reinen Liebe‘, sie hörte mir geduldig zu, ich dachte, es sei eine Offenbarung für sie, indessen, das braucht ja kaum erwähnt zu werden, machte sie sich über den dummen Buben lustig und langweilte sich zum Sterben. Ich sehe noch jetzt die finstere Souterrainstube, vor den Fenstern erblickte man die Beine der Vorübergehenden, nebenan war eine Schreinerwerkstatt, und man hörte das Kreischen des Hobels. Sie saß im Sofawinkel und schaute mich mit leerem Staunen an, dessen Sinn ich nicht begriff, oder sie lächelte schlau, und ich wußte das Lächeln nicht zu deuten, ich war von nichts erfüllt als von meiner schwärmerischen Illusion. Na, um zu Ende zu kommen, eines Tages erfuhr ich, daß sie ihr altes Gewerbe ganz unbekümmert weiterbetrieb und, während ich an meinen Seelenrettungsträumen spann, Nacht für Nacht Männerbesuche empfing. Es dauerte lange, bis ich mich von dem Schlag erholt hatte. In Wahrheit erholt man sich von so was vielleicht nie. Schön, das war der Sechzehnjährige. Der Romantiker Maurizius. Noch nicht der Satan, den Sie zehn Jahre später gemalt haben. Romantiker pur sang, ohne Bruch. Ernsthaft und schmerzlich. Doch es ist das: Über meine Jugend war ein Theaterhimmel ausgespannt. Die um achtzehnhundertachtzig Geborenen waren als junge Menschen in einer üblen Lage. Vom Haus und von der Schule bekam man alles mit, was man für das bürgerliche und für das sogenannte höhere Leben brauchte, die Grundsätze und die Ideale, die Monatsrente, wer die nicht hatte, zählte erst gar nicht mit, und die Bildung. Aber es war alles löcherig und fadenscheinig, nur die Rente, die war was Festes, das übrige war Talmi und billige Imitation, von den Weihnachts- und Hochzeitsgeschenken bis zur Begeisterung für Antike und Renaissance, vom studentischen Komment und den patriotischen Feiern bis zu ,Thron und Altar‘. Ich spürte das nicht so, ich war kein Rebell, ich hatte zuviel Freude am Leben, ich gab mir übers Allgemeine keine Rechenschaft, aber auf irgendeine Weise spürt man’s doch, da man ja ein zugehöriger Teil ist, nur war in jenen Jahren alles selbstisch vereinzelt, und wer nicht entschlossen mit seiner Umgebung und dem Herkommen brach, solche waren ja auch da, der wurde langsam eingesponnen und zugedeckt, er mußte nur sehen, daß er sich dann mit seinen finstern Stunden abfand. Da war dann freilich das Leben entsetzlich abgewelkt, eine dunkle Spannung beherrschte einen, es war, als hätte man sich die Seele vermauern lassen und hätte nichts zum Entgelt dafür bekommen als das bißchen schäbige Karriere und die paar Freunde, an die man sich mit allen Herzenskräften klammerte. Das Edelkorn war in die eigene Natur so zufällig hineingesprengt, ohne Zusammenhang, das war dann ,romantisch‘, eine Kategorie für sich, eine Religion beinahe, und man konnte ,romantisch‘ sein und dabei recht wenig Gewissen haben. Ich weiß noch, daß ich mit neunzehn Jahren von einer Tristanaufführung als seliger neuer Mensch nach Hause ging und zu Hause meinem Vater zwanzig Mark aus der Kommode stahl. Beides war möglich. Immer war beides möglich. Daß man einem Mädchen heilig schwor, sie zu heiraten, um sie kurz darauf niederträchtig ihrem Schicksal zu überlassen, und daß man in feierlicher Stimmung Buddhas Leben und Worte in sich aufnahm. Daß man einen armen Schneidermeister um seinen Lohn prellte und vor einer Raffaelschen Madonna in Verzückung stand. Daß man sich im Theater von Hauptmanns Webern erschüttern ließ und mit Genugtuung in der Zeitung las, daß auf die Streikenden im Ruhrgebiet geschossen wurde. Beides. Immer war beides möglich. Romantik. Romantik ohne Boden und ohne Ziel. Da haben Sie noch ein Porträt. Selbstporträt. Finden Sie, daß es schmeichelhafter ist als Ihres; Es hat nur das Versöhnliche, daß es in jedem Fall wie gesagt zwei Möglichkeiten zuläßt. Ihres ist grausam unverrückbar, es läßt nur eine zu.“
Angesichts dieses leidenschaftlich bohrenden Bekenntnisdrangs, der einen ganzen Lebensinhalt zum Strömen brachte, wie wenn ein Stauwehr bricht und das Wasser über die Ufer spült, überkam Herrn von Andergast auf einmal eine Regung feiger Scheu, die Angst vor einer Wahrheit, die zu suchen man sich eingeredet hat und die nicht zu finden dabei die stille Hoffnung ist. Derlei Geistesverfassungen sind nicht allzu selten. Sie sind das Miniaturbild der Epochen, in denen „beides möglich ist“, wie der Sträfling Maurizius es formuliert hatte, nur ging er vermutlich darin irre, daß er sie ausschließlich für die Epoche seiner Generation in Anspruch nahm. Oder war es nur Ausfluß des hintergründigen Sarkasmus, den Herr von Andergast bereits mit soviel Unbehagen verspürt hatte? Kaum. Da kauerte ein zerfleischter Mensch, lechzend nach Mitteilung, mit fiebriger Gier nach Gehör verlangend, willig sich auszuschütten, sich hinzudehnen, zu zeugen, zu wissen, zu sagen, aus dem Formlosen seiner zermalmenden Einsamkeit wieder in die Kontur zu gerinnen. Herr von Andergast sagte ausweichend, aufs Geratewohl in eine neue Stille hinein: „Ganz richtig. Es war mir auch nur eine einzige Möglichkeit gelassen.“
Maurizius hob den Kopf und starrte ihn an, mit einem wüsten Ausdruck im Gesicht. „Und wenn Ihre Voraussetzung falsch wäre?“fragte er von unten herauf, lauernd. Herr von Andergast versetzte schroff: „Das ist undenkbar.“„Undenkbar? Köstlich. Ich frage ja nur: wenn? Auch das Wenn können Sie sich nicht denken? Wenn sie aber doch falsch wäre?“„Scheint es denn Ihnen denkbar?“„Vielleicht.“„Warum haben Sie dann geschwiegen? Während der Voruntersuchung, bei der Verhandlung, im Strafhaus geschwiegen, achtzehneinhalb Jahre?“„Soll ich Ihnen sagen, warum?“(Wieder das düstere Lauern, von unten herauf.) „Ich bitte.“