Lindauer Zeitung

Harter Brexit gefährdet Jobs

Mehr als 100 000 Stellen bedroht – viele davon im Süden

- Von Christoph Meyer, Johanna Uchtmann und Annette Birschel

BERLIN (dpa/sz) - In Deutschlan­d sind einer neuen Studie zufolge die Arbeitsplä­tze von mehr als 100 000 Menschen durch einen harten Brexit ohne Abkommen bedroht. „In keinem anderen Staat ist der Effekt auf die Gesamtbesc­häftigung so groß wie in Deutschlan­d“, sagte Studienaut­or Oliver Holtemölle­r, Vize-Chef des Leibniz-Instituts für Wirtschaft­sforschung Halle, der „Welt am Sonntag“. Die Simulation erfasse zudem nur Jobeffekte, die auf den daraus folgenden Exporteinb­ruch zurückzufü­hren seien.

In Deutschlan­d sei vor allem die Autoindust­rie betroffen. Die größten Auswirkung­en gäbe es, gemessen an der Gesamtzahl der Beschäftig­ten, am VW-Standort Wolfsburg, in Dingolfing-Landau (BMW) sowie im Kreis Böblingen (IBM, Siemens, Daimler). Zu den 30 am heftigsten betroffene­n Kreisen zählen Tuttlingen, Biberach, Unterallgä­u, Rottweil und der Bodenseekr­eis.

BERLIN (dpa) - Ein ungeordnet­er Brexit könnte nach neuen Berechnung­en die Arbeitsplä­tze von 100 000 Menschen in Deutschlan­d gefährden. Das ergab eine Simulation von Wissenscha­ftlern des Leibniz-Instituts für Wirtschaft­sforschung Halle (IWH) und der MartinLuth­er-Universitä­t Halle-Wittenberg, über die die „Welt am Sonntag“berichtete. Gefahren sehen die Wissenscha­ftler vor allem für Landkreise in Baden-Württember­g, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Jobs in Ostdeutsch­land seien dagegen kaum gefährdet.

Ob es eine Einigung gibt und vor allem wann, ist allerdings weiter unklar. Am Sonntag bestätigte eine Sprecherin der britischen Regierung der Deutschen Presse-Agentur, dass Premiermin­isterin Theresa May das Parlament in London noch einmal um mehr Zeit für Nachverhan­dlungen mit der EU bitten wolle.

Für eine Abstimmung über das weitere Vorgehen ist demnach nun der 27. Februar vorgesehen. Die Opposition wirft May vor, Zeit zu schinden, um die Abgeordnet­en kurz vor dem Brexit-Datum am 29. März in einer Friss-oder-stirb-Abstimmung vor die Wahl zwischen ihrem Vertrag mit der EU und einem ungeregelt­en Brexit zu stellen.

Dass es überhaupt ein Abkommen Großbritan­niens mit der EU gibt, dürfte auch für deutsche Arbeitnehm­er von Interesse sein, wenn man der Untersuchu­ng aus Halle folgt: „In keinem anderen Staat ist der Effekt auf die Gesamtbesc­häftigung so groß wie in Deutschlan­d“, sagte einer der Studienaut­oren, Oliver Holtemölle­r, der Zeitung.

Nach einem ungeregelt­en Brexit würden wieder Zölle auf Importe nach Großbritan­nien erhoben. Die Simulation der Wissenscha­ftler erfasse nur Jobeffekte, die auf den daraus folgenden Exporteinb­ruch zurückzufü­hren seien. Weitere BrexitGefa­hren für den Arbeitsmar­kt, etwa sinkende Investitio­nsbereitsc­haft, bildeten die Zahlen nicht ab.

Automobils­ektor

In Deutschlan­d sei demnach von einem Exportrück­gang vor allem die Autoindust­rie betroffen. Die größten Auswirkung­en gäbe es – gemessen an der Gesamtzahl der Beschäftig­ten – am VW-Standort Wolfsburg und am BMW-Standort Dingolfing-Landau in Niederbaye­rn. Für Wolfsburg habe die Formel ergeben, dass 500 Arbeitnehm­er potenziell betroffen seien, für Dingolfing-Landau seien es 265. In beiden Fällen entspräche das rund 0,4 Prozent der gesamten Beschäftig­ten.

Viele Arbeitnehm­er (726 oder rund 0,3 Prozent) müssten demnach auch im Landkreis Böblingen bei Stuttgart um ihre Stellen fürchten. Dort sitzen Technologi­ekonzerne wie IBM oder Siemens, auch Daimler hat ein Werk. Ähnlich sei die Situation im Märkischen Kreis im südlichen Westfalen, wo viele mittelstän­dische Unternehme­n mit Auslandsge­schäft sitzen – laut der Formel sind hier 703 Stellen oder 0,3 Prozent der Beschäftig­ten potenziell bedroht.

Auswirkung­en auf den Südwesten

Unter den 30 am stärksten betroffen Landkreise­n befinden sich demnach auch der Landkreis Tuttlingen (309 Stellen oder 0,37 Prozent der Beschäftig­ten), der Bodenseekr­eis (375 Stellen oder 0,31 Prozent), der Landkreis Biberach (354 Stellen oder 0,34 Prozent), der Landkreis Unterallgä­u (214 Stellen oder 0,32 Prozent), der Landkreis Rottweil (242 Stellen oder 0,33 Prozent).

Nach Deutschlan­d sei Frankreich das EU-Land, dessen Arbeitsmar­kt durch einen ungeregelt­en Brexit am stärksten bedroht sei. Hier seien fast 50 000 Arbeitnehm­er betroffen. In China seien es knapp 59 000. Gemessen an der Gesamtbevö­lkerung seien die Auswirkung­en in Malta und Irland am größten. Weltweit könnten den Berechnung­en zufolge nach einem ungeregelt­en Brexit 612 000 Menschen ihre Arbeit verlieren.

Die Zahlen sind Ergebnisse einer Simulation­srechnung: Für die Untersuchu­ng sind die Autoren davon ausgegange­n, dass die Importe Großbritan­niens nach einem ungeordnet­en Brexit um 25 Prozent einbrechen – ein Wert, der gängigen wissenscha­ftlichen Schätzunge­n entspreche. Sie entwickelt­en eine Formel, mit der sie berechnen konnten, wie sich ein solcher Importeinb­ruch auf welche Industrie und welches Land auswirkt. Grundlage dafür waren Daten der World Input Output Database (WIOD), die die Welthandel­sverflecht­ungen von Staaten dokumentie­rt.

Andere Brexit-Nachrichte­n dürften Arbeitnehm­ern in der EU dagegen Hoffnung machen. Das niederländ­ische Wirtschaft­sministeri­um teilte am Samstag mit, dass 42 britische Unternehme­n seit 2018 in die Niederland­e umgezogen seien. Damit waren demnach 291 Millionen Euro Investitio­nen verbunden, etwa 2000 Arbeitsplä­tze seien geschaffen worden.

Wie geht es nun weiter? May will spätestens am Mittwoch eine Erklärung im Parlament über den Stand der Verhandlun­gen abgeben. Sollte das Parlament May am Donnerstag mehr Zeit gewähren, wäre das bereits die zweite Verlängeru­ng seit der krachenden Niederlage für ihren Brexit-Deal Mitte Januar. Bisher lehnt die EU jegliche Änderung am Brexit-Abkommen kategorisc­h ab.

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FOTO: DPA Fertigung im Werk Rastatt der Daimler AG: Zahlreiche Landkreise­n im Süden Deutschlan­ds sind laut einer Studie direkt vom Brexit betroffen. Es droht ein Abbau von insgesamt 100 000 Stellen.

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