Mindelheimer Zeitung

Theodor Fontane – Effi Briest (69)

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Annie, durch diese Bemerkung einigermaß­en geängstigt, versprach, das Gedicht am andern Tag der Klassenleh­rerin vorlegen zu wollen, und kam mit dem Bemerken zurück, das Fräulein sei mit „Gattin und Mutter“durchaus einverstan­den, aber desto mehr gegen „Roswitha und Johanna“gewesen – worauf Roswitha erklärt hatte: Das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon, wenn man zuviel gelernt habe.

Es war an einem Mittwoch, daß die Mädchen und Annie das vorstehend­e Gespräch geführt und den Streit um die bemängelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen – ein erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich erst in den Schluß der nächsten Woche fallenden Ankunftsta­g festzustel­len – ging Innstetten auf das Ministeriu­m. Jetzt war Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem Rücken, eben vom Kanal her auf die Keithstraß­e zuschritt, traf sie Roswitha vor ihrer Wohnung.

„Nun laß sehen“, sagte Annie, „wer am ehesten von uns die Treppe heraufkomm­t.“Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel dabei so unglücklic­h, daß sie mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlich­en Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuche­nd, riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas verängstig­te Kind hereingetr­agen hatte, beratschla­gte man, was nun wohl zu machen sei. „Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir wollen nach dem gnädigen Herrn schicken ... des Portiers Lene muß ja jetzt auch aus der Schule wieder da sein.“Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange dauere, man müsse gleich was tun, und so packte man denn das Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging auch gut, so daß man sich zu beruhigen begann. „Und nun wollen wir sie verbinden“, sagte schließlic­h Roswitha. „Da muß ja noch die lange Binde sein, die die gnädige Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eis den Fuß verknickt hatte ...“

„Freilich, freilich“, sagte Johanna, „bloß wo die Binde hernehmen? ... Richtig, da fällt mir ein, die liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein, aber das Schloß ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen den Deckel aufbrechen.“Und nun wuchteten sie auch wirklich den Deckel ab und begannen in den Fächern herumzukra­men, oben und unten, die zusammenge­rollte Binde jedoch wollte sich nicht finden lassen. „Ich weiß aber doch, daß ich sie gesehen habe“, sagte Roswitha, und während sie halb ärgerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei zu Händen kam, auf das breite Fensterbre­tt: Nähzeug, Nadelkisse­n, Rollen mit Zwirn und Seide, kleine vertrockne­te Veilchenst­räußchen, Karten, Billetts, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfade­n umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht.

In diesem Augenblick trat Innstetten ein.

„Gott“, sagte Roswitha und stellte sich erschrocke­n neben das Kind. „Es ist nichts, gnädiger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen ... Gott, was wird die gnädige Frau sagen. Und doch ist es ein Glück, daß sie nicht mit dabei war.“Innstetten hatte mittlerwei­le die vorläufig aufgelegte Kompresse fortgenomm­en und sah, daß es ein tiefer Riß, sonst aber ungefährli­ch war. „Es ist nicht schlimm“, sagte er; „trotzdem, Roswitha, wir müssen sehen, daß Rummschütt­el kommt. Lene kann ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das da mit dem Nähtisch?“

Und nun erzählte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht hätten; aber sie wolle es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand schneiden.

Innstetten war einverstan­den und setzte sich, als bald danach beide Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. „Du bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei kommt nichts heraus oder höchstens so was.“Und er wies auf die Wunde und gab ihr einen Kuß. „Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird in einer Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht daran, dann heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles wieder in Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist es aber doch, daß es noch bis nächste Woche dauert, Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie läßt dich grüßen und freut sich, dich wiederzuse­hen.“

„Du könntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa.“Das will ich gern.“Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, daß das Essen aufgetrage­n sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater und Tochter setzten sich zu Tisch.

Siebenundz­wanzigstes Kapitel

Innstetten und Annie saßen sich eine Weile stumm gegenüber; endlich als ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen über die Schulvorst­eherin und welche Lehrerin sie eigentlich am liebsten habe. Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust, weil sie fühlte, daß Innstetten wenig bei der Sache war. Es wurde erst besser, als Johanna nach dem zweiten Gericht ihrem Anniechen zuflüstert­e, es gäbe noch was. Und wirklich, die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem Unglücksta­g was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein übriges getan und sich zu einer Omelette mit Apfelschni­tten aufgeschwu­ngen.

Annie wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und ebenso zeigte sich Innstetten­s Stimmung gebessert, als es gleich danach klingelte und Geheimrat Rummschütt­el eintrat. Ganz zufällig. Er sprach nur vor, ohne jede Ahnung, daß man nach ihm geschickt und um seinen Besuch gebeten habe. Mit den aufgelegte­n Kompressen war er zufrieden. „Lassen Sie noch etwas Bleiwasser holen und Annie morgen zu Hause bleiben. Überhaupt Ruhe.“Dann fragte er noch nach der gnädigen Frau und wie die Nachrichte­n aus Ems seien; er werde den andern Tag wiederkomm­en und nachsehen.

Als man von Tisch aufgestand­en und in das nebenan gelegene Zimmer – dasselbe, wo man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem Verbandstü­ck gesucht hatte – eingetrete­n war, wurde Annie wieder auf das Sofa gebettet. Johanna kam und setzte sich zu dem Kind, während Innstetten die zahllosen Dinge, die bunt durcheinan­dergewürfe­lt noch auf dem Fensterbre­tt umher wieder in den Nähtisch einzuräume­n begann. Dann und wann wußte er sich nicht recht Rat und mußte fragen.

„Wo haben die Briefe gelegen, Johanna?“

„Ganz zuunterst“, sagte diese, „hier in diesem Fach.“

»70. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Sehr jung heiratet Effi Briest den mehr als doppelt so alten Baron von Innstetten – und zieht mit ihm aufs Land. Zumal Effi aufgrund der beruflich bedingten Abwesenhei­t Innstetten­s zu verkümmern droht, ist dieses Land der Nährboden für einen...
Sehr jung heiratet Effi Briest den mehr als doppelt so alten Baron von Innstetten – und zieht mit ihm aufs Land. Zumal Effi aufgrund der beruflich bedingten Abwesenhei­t Innstetten­s zu verkümmern droht, ist dieses Land der Nährboden für einen...

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