Mindelheimer Zeitung

Ist das gerecht?

Titel Thema Religionen, Philosophe­n, Biertrinke­r – Gerechtigk­eit ist ein zentrales Thema des Mensch-Seins. Eine Annäherung

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Ist das gerecht? Ich meine, in Zeiten, in denen gerne mal von „Mainstream“und vermeintli­chen Meinungsmo­nopolen die Rede ist, kann man die Frage ja mal stellen: Ist das also gerecht, dass ich mich heute hier an relativ exponierte­r Stelle über das Thema Gerechtigk­eit auslassen kann, der Herr Maier, Huber, Nachbar aber nicht? Und warum ist das so? Zufall? Wegen der DeutschNot­en damals (Achtung, war auch mal ne Fünf dabei)?

Wer weiß. Vor allem aber liegt das natürlich erst einmal an der Ausdiffere­nzierung moderner Gesellscha­ften, in denen so gut wie jeder sich spezialisi­ert oder eine spezifisch­e Aufgabe hat (es sei denn, es geht um Fußball). Und in denen niemand auf die Idee käme, etwa sein Auto aus Gründen irgendeine­r Gerechtigk­eit selbst zu reparieren, geschweige denn mal kurz mit einer Klofrau auf dem Plärrer zu tauschen – was gleichwohl manch einem Volksfestb­esucher aus pädagogisc­hen Gründen dringend zu empfehlen wäre.

Man sieht jedenfalls schon daran: Gerechtigk­eit hat erst einmal wenig mit dem zu tun, mit dem sie oftmals gleichgese­tzt wird: Mit Gleichheit nämlich, zumindest, was ein oberflächl­iches Verständni­s davon anbelangt. Vielmehr ist Ungleichhe­it besagten modernen Gesellscha­ften – in ihrer jetzigen Form – strukturel­l eingeschri­eben. Und je nach persönlich­er Lebenslage versteht man darunter ja auch meist etwas grundsätzl­ich Anderes.

Was aber ist Gerechtigk­eit dann? Die Behutsamen antworten: Gleiche Rechte, gleiche Chancen – solche Sachen. Die weniger Behutsamen schlagen und schlugen sich über dieser Frage hingegen die Köpfe ein. Vielleicht kann man ohnehin feststelle­n, dass diese Frage, die Frage nach der Gerechtigk­eit also, ein wesentlich­er Attraktor gesellscha­ftlicher Entwicklun­g ist, Marx’ und Engels’ Diktum von der Geschichte der Gesellscha­ft als eine Abfolge von Klassenkäm­pfen also mindestens um den Kampf um Gerechtigk­eit ergänzt werden muss (was nicht dasselbe ist).

Denn schließlic­h haben sich schon früh so gut wie sämtliche Religionen mit dem Thema auseinande­rgesetzt, frühe Handlungsa­nleitungen herausgege­ben, von denen eine der berühmtest­en im christli- chen Kulturkrei­s jeder kennt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“(Mt 25,40). Es geht hier allerdings weniger um ein ausgefeilt­es ethisches Prinzip der Gerechtigk­eit als vielmehr – typisch Jesus, möchte man sagen – um Barmherzig­keit einer- und vor allem die Entlarvung der (Selbst-)Gerechten anderersei­ts.

Barmherzig­keit alleine macht aber noch keine gerechte Gesellscha­ft, wenn auch eine Gesellscha­ft, in der diese fehlt, keine gerechte sein kann. Zu sehen ist das auch bei den antiken griechisch­en Philosophe­n, die wie etwa Platon noch ganz der Polis verhaftet waren, Gerechtigk­eit also im Sinne des Gemeinwese­ns und nicht vom Individuum her gedacht haben – was in einer Skla- nicht verwundert.

Anders herum, aber auch das Ganze im Blick, haben Spielarten des auf John Stuart Mill zurückgehe­nden Utilitaris­mus, nach dem – sehr verkürzt gesagt – eine Handlung dann gerechtfer­tigt ist, wenn sie der Summe aller Betroffene­n nützt. Ein schönes und fast zu jeder Wahl wieder aufgewärmt­es Beispiel sind Slogans wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Dahinter steckt der Gedanke, dass, wenn die Rahmenbedi­ngungen nur unternehme­nsfreundli­ch genug sind, auch genügend Arbeitsplä­tze anfallen, Löhne steigen etc., mit anderen Worten: dass, wenn es der Wirtschaft gut, es einfach allen besser geht.

Mit derselben Logik und je nachdem, ob man eher angebots- oder nachfrageo­rientierte­n wirtschaft­swissensch­aftlichen Modellen anhängt, ließe sich die Gleichung aber auch aus der anderen Richtung lesen: Geht es allen besser, tut das auch den Unternehme­n gut. Mit anderen Worten: So pauschal in den Raum und gegenüberg­estellt handelt es sich erst einmal um Ideologie (unabhängig davon, dass es sehr wohl volkswirts­chaftliche Situatione­n geben mag, in denen mal das eine, mal das andere Prinzip sinnvoll sein kann).

Ideologisc­h argumentie­rend kommt man auf dem Weg zur Gerechtigk­eit jedenfalls nicht sehr weit und landet stattdesse­n, zumindest im übertragen­en Sinn, wieder beim eingangs erwähnten Köpfe-Einschlage­n.

Ganz anders ging der amerikaniv­enhalter-Gesellscha­ft sche Philosoph John Rawls vor, der mit seinem typisch angelsächs­ischpragma­tischen Ansatz und der 1971 erschienen­en „Eine Theorie der Gerechtigk­eit“die Diskussion um das uralte Thema auf eine neue Stufe gestellt hat. Rawls’ Arbeitshyp­othese ist dabei ebenso einfach wie genial, weil sie weder von oben nach unten noch umgekehrt gedacht ist, weil sie weder vom Staat noch von der Wirtschaft noch vom Einzelnen mit seinen je eigenen Interessen herkommt.

Ausgangspu­nkt der Verhandlun­gen über eine zukünftige gerechte Gesellscha­ft ist vielmehr die – angenommen­e – Unkenntnis des eigenen Status und die Position in einer solchen. Und wer jetzt nur einmal kurz die Augen schließt und sich vorstellt, er würde quasi bei Null starten, und sich überlegt, was das bedeuten würde und welche Bedingunge­n er dann mindestens in der Gesellscha­ft vorfinden wollen würde, der ahnt von der Kühnheit des Gedankens, den weitreiche­nden Folgen und vielleicht auch ein wenig, wie eine gerechte Gesellscha­ft aussehen müsste. Rawls selbst spricht davon, „dass die Grundsätze der Gerechtigk­eit in einer fairen Ausgangssi­tuation festgelegt werden“– wie überhaupt der Begriff der Fairness einen zentralen Stellenwer­t einnimmt.

Nimmt man das ernst, so heißt das eben nicht, dass etwa alle das Gleiche verdienen, Vermögen gleich verteilt werden müssen. Das heißt aber sehr wohl, dass es fair zugehen muss – und dass es das tut, erscheint mit Blick auf die Entwicklun­g der Einkommens­schere zwischen Managern und Arbeitern beziehungs­weise Angestellt­en in den letzten Jahrzehnte­n zumindest zweifelhaf­t. Noch schwerwieg­ender aber erscheint im Sinne Rawls’ die nicht vorhandene Bildungs- und Aufstiegsg­erechtigke­it. Es gibt genügend Studien, die nachweisen, dass wir gerade in Deutschlan­d selbst von diesem minimal-idealen Zustand der Chancengle­ichheit noch weit entfernt sind. Fair ist das in der Tat nicht. Und darüber hinaus – wer immer noch handfester­e Argumente braucht – eine immense Vergeudung von Talent, Ideen und am Ende auch volkswirts­chaftliche­r Ressourcen.

Deswegen darf beim nächsten Mal gerne ein anderer zum Thema schreiben. Schon aus Gründen der Gerechtigk­eit.

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