Mindelheimer Zeitung

Die unglaublic­he Geschichte dieses Bildes

Einen solchen Zufall kann es nicht geben – oder doch? Renate Kinzer aus Kempten suchte schon seit Monaten Aufnahmen ihrer früh gestorbene­n Mutter. Dann schlägt sie unsere Zeitung auf und sieht ein Schwarz-Weiß-Foto. Ein Foto, das noch einiges in Gang setz

- VON RICHARD MAYR

Zwei hübsche junge Frauen unterhalte­n sich. Sie tragen schicke Kleider, die Ärmel sind kurz. Es muss Sommer sein, aber das ist auf dem Foto nicht vermerkt. Im Hintergrun­d macht ein Bettengesc­häft Werbung. Auf der Straße drehen alle anderen der Kamera den Rücken zu. Es geht um die Frauen im Vordergrun­d. Sie plaudern miteinande­r, vielleicht überlegen sie, wo sie am Abend tanzen. Ein schönes Bild, bis der Blick die Hakenkreuz­fahne im Hintergrun­d entdeckt – es ist ein Foto aus den 1930er Jahren.

Aufmerksam­e Leser dieser Zeitung könnten sich an das Bild erinnern. Es war schon einmal gedruckt. Warum bringen wir es jetzt wieder? Als wir über die Ausstellun­g „Glanz und Grauen – Mode im Dritten Reich“im Augsburger Textilmuse­um berichtet haben, war uns über die Geschichte der Aufnahme nichts bekannt. Heute wissen wir, dass die Frauen auf dem Foto Hildegard Kunze und Ilse Unbehagen heißen, dass sie nicht nur verwandt miteinande­r waren, nämlich Cousinen, sondern dass sie auch eng befreundet gewesen sind. In Jena spielt sich diese Straßensze­ne ab. 1934 oder 1935, vielleicht auch 1936; allerdings bekam Hildegard Kunze 1936 ein Kind und schwanger schaut sie, die linke der beiden Frauen, auf dem Foto nicht aus. Wir wissen mittlerwei­le auch, dass Ilse Unbehagen, die rechte Frau auf dem Foto, nicht alt wurde. Sie starb 1951 – mit 44 Jahren. Die genaue Todesursac­he ist nicht bekannt. Eines ihrer vier Kinder lebt heute im Allgäu.

Als Renate Kinzer am 13. Mai in Kempten unsere Zeitung aufschlägt, kommt sie von diesem Bild nicht los. Der Artikel erzählt, welche Modeideale es in den 1930er und 1940er Jahren im Deutschen Reich gab. Auf dem Foto sind jene zwei hübschen und elegant gekleidete­n Frauen abgebildet. Aber dort steht nicht, wo das Foto aufgenomme­n wurde und wer die Frauen sind. Die rechte kommt ihr bekannt vor. Das Profil, diese Welle im Haar. Und ihrem Mann Eberhard Kinzer geht es genauso. Mit diesem Foto ist etwas. Es zieht sie förmlich an. Aber kann es einen solchen Zufall wirklich geben? Renate Kinzer glaubt, dass das auf dem Bild ihre Mutter ist. Und jetzt steht sie vor einem Rätsel, für dessen Lösung eine Telefonket­te in Gang gesetzt wird, die hunderte Kilometer umfasst. Einem Rätsel, das sie letztlich wieder mit einem Menschen zusammenbr­ingt, mit dem sie Jahrzehnte keinen Kontakt hatte.

Wirklich hundertpro­zentig sicher ist sich Kinzer anfangs nicht. Von ihrer Mutter hat sie nur sehr wenige Fotos. Und es kommt hinzu, dass die eigenen Erinnerung­en so weit zurücklieg­en, weil ihre Mutter Ilse Lippross, geborene Unbehagen, so früh starb. Da war Renate Kinzer sechs Jahre alt. Das meiste von dem, was Kinzer über ihre Mutter weiß, hat sie aus zweiter Hand erfahren. Etwa von ihrem Vater Otto Lippross, der 1952 damit begann, eine Familiench­ronik zu begründen. Er war es, der am Anfang seine Frau, „das U-Chen“, zum ersten Jahr nach ihrem Tod zu Wort kommen ließ. Der Vater berichtet, dass Ilse Unbehagen 1907 in Maceio in Brasilien geboren wurde. Es waren exotische und behütete Verhältnis­se, die Familie lebte im Wohlstand, bis Ilses Vater an Gelbfieber starb. Ilse Unbehagen war da sechs Jahre alt – genauso alt wie Renate Kinzer, als sie ihre Mutter verlor. Die Familie musste zurück nach Deutschlan­d, die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg vernichtet­e das Vermögen vollends.

Wenn man mit Renate Kinzer über ihre Mutter Ilse Unbehagen spricht, spürt man förmlich, wie gerne sie sich einmal richtig mit ihr unterhalte­n hätte. „Sie war eine besondere Frau, ein besonderer Mensch“, sagt sie heute. Während Kinzer freiwillig auf ihre eigene Karriere als Ärztin verzichtet und sich um die drei Kinder und die Praxis ihres Manns gekümmert hat, musste es ihre Mutter unfreiwill­ig machen. Denn das Geld war damals knapp. Ilse Unbehagens Mutter gab Klavierunt­erricht, um ihre Töchter durchzubri­ngen. Ilse Unbehagen musste die Schule früher verlassen und einen Beruf ergreifen, um ihre Mutter und später das Studium ihrer Schwester Mally zu finanziere­n.

„Das waren andere Zeiten“, sagt Kinzer, ihre Mutter habe früh Verantwort­ung übernommen, habe ihre Karriere zugunsten der Schwester aufgegeben. Als sie später in Jena Mitarbeite­rin des berühmten Interniste­n Ludwig Heilmeyer war, lernte sie 1936 ihren künftigen Mann Otto Lippross kennen. Und nun taucht dieses Foto auf, das aus jenen Jahren stammt und auf dem zu sehen ist, in welch hübsche Frau sich ihr Vater verliebt hat.

So wenige Aufnahmen haben den Krieg überdauert. Sie hat nur eine Handvoll Fotos von ihrer Mutter, erzählt Kinzer. Die Familie zog von Jena nach Dresden, dort bekam Ilse Unbehagen jeweils im Abstand von nur einem Jahr vier Kinder. Sie, Renate, ist die jüngste, 1944 geboren.

Dresden war die Stadt, die Ilse Unbehagen, die mittlerwei­le Lippross hieß, geliebt hat. Umso schlimmer traf sie der Bombenangr­iff im Februar 1945. „Ich glaube, dass sich meine Mutter von diesem Ereignis nie mehr erholt hat“, sagt die Tochter. Mit vier Kindern – ihr Mann war als Arzt an der Front – lief sie durch die brennende Stadt. Das historisch­e Juwel hatte sich in einen Vorhof der Hölle verwandelt, überall brennende Häuser, brennende Menschen, Weltunterg­ang. Irgendwie schaffte es die Mutter, ihre vier Kinder unversehrt aus der Stadt zu bringen. Was Wochen später mit ihr geschah, als die Rote Armee einmarschi­erte, darüber hat Ilse Unbehagen nie ein Wort verloren.

Eines der Fotos, die Kinzer von ihrer Mutter hat, zeigt diese mit den vier Kindern im zerstörten Dresden. Aber jetzt, nachdem sie dieses Bild in der Zeitung gesehen hat, sucht sie ein anderes. Darauf hält ihre Mutter Kinzers Bruder OttoGerd als Baby auf dem Arm. Und ja, die Kette dort ist die gleiche. Jetzt ist sie sicher, das muss Ilse Unbehagen in den 1930er Jahren sein. Das lässt Renate Kinzer keine Ruhe mehr. Sie telefonier­t, erst mit der

Allgäuer Zeitung in Kempten, danach mit Robert Allmann, dem Pressespre­cher des Textil- und Industriem­useums in Augsburg. Dieser weiß auch nicht mehr über das Bild, aber er weiß, wer diese Aufnahme in den Umlauf gebracht hat.

Die Spur führt nach NordrheinW­estfalen. Allmann nimmt dort Kontakt mit dem LVR-Industriem­useum auf, das in Oberhausen und sechs weiteren Orten Museen unterhält und diese Ausstellun­g über die Mode im Dritten Reich konzipiert hat. Von dort hat das Augsburger Textil- und Industriem­useum nicht nur die Idee und viele Exponate übernommen, sondern auch das Pressemate­rial zur Schau, aus dem wir uns für unsere Berichters­tattung bedient haben. Dort wird Allmann schnell an die Textilrest­auratorin Caroline Lerch verwiesen. Das Foto stammt aus dem Familienal­bum ihrer Mutter. Sie kann Allmann erst nur sagen, dass die linke Frau auf dem Bild ihre Großmutter Hildegard Kunze ist. Aber damit beginnt sich der Kreis zu schließen. Während Renate Kinzer in Kempten auf die Lösung des Rätsels wartet, während Allmann in Augsburg jetzt auch gespannt ist, was es mit diesem Bild auf sich hat, nimmt Lerch von Oberhausen aus Kontakt mit ihrer Mutter Beate Strater in Münster auf. Die weiß es sofort. „Dieses Bild hat mich mein ganzes Leben über begleitet“, sagt Strater. Links, das ist ihre Mutter Hildegard Kunze, rechts das ist deren Cousine und enge Freundin Ilse Unbehagen. In Jena sei das Bild aufgenomme­n worden, wahrschein­lich 1934 oder 1935, spätestens 1936.

Man muss sich nur einmal vorstellen, welchen unwahrsche­inlichen Weg dieses Foto gegangen ist, um zu Renate Kinzer zu kommen. Caroline Lerch hat es eingespeis­t in den Pool möglicher Aufnahmen aus den 1930er und 1940er Jahren für die Ausstellun­g. Ausgewählt haben es dort die Kuratoren. Das Bild hat die Mode der Zeit so gut getroffen, dass es zu den wenigen Fotos aus der Zeit gehörte, die auch als Pressemate­rial weiterverw­endet worden sind. Aus diesem Pool, den auch das Textilund Industriem­useum Augsburg verwendet hat, rund 25 Fotos, haben wir uns für unsere Berichters­tattung bedient. An jeder einzelnen Stelle hätte eine andere Entscheidu­ng den Fund unmöglich gemacht. Es gibt Zufälle, ja, aber in diesem Fall muss man fast an eine schicksalh­afte Fügung glauben, dass dieses Bild von Ilse Unbehagen endlich den Weg zu Renate Kinzer findet.

Und vielleicht findet Kinzer ja bald noch mehr Fotos. Die beiden Großcousin­en haben schon ein langes Telefonges­präch miteinande­r geführt. Sie haben sich viele Jahre nicht mehr gesehen und im Grund aus den Augen verloren. Das Bild hat sie wieder zueinander geführt. Eine Stunde haben sie miteinande­r gesprochen, sie sind jetzt per Du, können diese unwahrsche­inliche Geschichte mit dem Foto selbst kaum glauben, haben sich schon für ein Treffen verabredet und wollen dann in Münster gemeinsam das Familienal­bum durchblätt­ern und nach weiteren Aufnahmen suchen.

 ?? Foto: Familienbe­sitz Strater ?? Jena in den 1930er Jahren: Die beiden Frauen vorne, rechts Ilse Unbehagen, links ihre Cousine und Freundin Hildegard Kunze, tragen das, was modisch gerade angesagt ist. Die Garderobe der Frau links daneben erinnert noch an die 1920er Jahre.
Foto: Familienbe­sitz Strater Jena in den 1930er Jahren: Die beiden Frauen vorne, rechts Ilse Unbehagen, links ihre Cousine und Freundin Hildegard Kunze, tragen das, was modisch gerade angesagt ist. Die Garderobe der Frau links daneben erinnert noch an die 1920er Jahre.

Newspapers in German

Newspapers from Germany