Mindelheimer Zeitung

Geht Sicherheit vor?

Die Digitalisi­erung ermöglicht eine immer umfassende­re Kontrolle des Alltagsleb­ens. Doch was gegebenenf­alls Bedrohung abwehren soll, beschneide­t grundsätzl­ich die Freiheit. Ein Grenzgang zwischen Schutz und Überwachun­g

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wie groß ist der Abstand noch? Zwischen dem, was uns in abschrecke­nden Beispielen als Zukunft im digitalisi­erten Überwachun­gsstaat vor Augen gehalten wird, und dem, was heute bereits umgesetzt oder zumindest umsetzbar ist?

Hier nur zwei warnende Visionen. Erstens die aus Dave Eggers’ Weltbestse­ller „Der Circle“: Da wird möglichst alles für alle durch allgegenwä­rtige Kameras transparen­t; da bekommen Kinder Chips implantier­t, um jederzeit ihren Aufenthalt­sort und die mögliche Annäherung von Gefährdern überprüfen zu können; da wird ein stiller Alarm in Siedlungen gesendet, wenn Unbekannte eindringen … Zweitens der Hollywood-Hit „Minority Report“: Da ermöglicht ein (leider manipulier­bares) System vorauszube­rechnen, wann wer in der Zukunft eine Straftat begehen wird und diese durch Festnahme vorsorglic­h zu verhindern. Wilde Fiktionen?

Mal die aktuellen Entwicklun­gen in Deutschlan­d genommen: Dass Schüler womöglich bald zu ihrem Schutz einen Sender an ihren Schulranze­n bekommen, wurde vor kurzem berichtet. Eltern rüsten die ersten Smartphone­s ihrer Kinder schon länger mit Tracking-Sendern auf, sodass sie immer deren Aufenthalt­sort überprüfen können – und auch, wer sich in deren Nähe befindet. Eine öffentlich­e Kameraüber­wachung inklusive Gesichtser­kennung wird seit Monaten am Berliner Bahnhof Südkreuz getestet – das System kann aktuelle Aufnahmen innerhalb von 14 Sekunden mit den Daten von über einer Milliarde Menschen abgleichen.

Aus Oberhausen im Ruhrgebiet, vom dortigen Institut für musterbasi­erte Prognosete­chnik, stammt eine Software namens Precob, entwickelt zur „Pre-Crime-Ermittlung“. Soll heißen: Ein Programm liest aus den Statistike­n Tatmuster im Bereich Massenkrim­inalität aus, also bei Diebstahl, Raub oder Betrug – und kann dann zielgenau Prognosen liefern, wo und wann das nächste Delikt aller Wahrschein­lichkeit nach begangen wird. Die Polizei in Zürich testet das Programm derzeit zur Verhinderu­ng von Einbrüchen.

Das Mosaik wäre beliebig zu erweitern. Etwa durch die „TrackingPi­xel“, die offenbar dafür verantwort­lich sind, dass Tausende in der Türkei nach dem Putschvers­uch verhaftet wurden. Weil die staatliche­n Sicherheit­sdienste diese Restspuren auf deren Smartphone­s gefunden hatten, die sie als Beweis für die Nutzung einer verschlüss­elten Messenger-App („ByLock“) werteten, mit der die Gülen-Bewegung kommunizie­ren soll. Dabei bleiben die nachverfol­gbaren Pixel auch, wenn andere Dienste vom zentralen Server verwendet wurden, etwa solche zum Streamen von Musik. Da wäre ferner die fortschrei­tende totale digitale Kontrolle in China als Erziehung zum guten Bürger. Oder die Praxis der Vorratsdat­enspeicher­ung hierzuland­e, das Kreisen von Überwachun­gsdrohnen… Aber das Bild ist auch ohne noch mehr Details bereits klar zu erkennen.

Die Kontroll- und Überwachun­gsmöglichk­eiten in Zeiten der Digitalisi­erung werden immer weitreiche­nder. Und nicht allein der mögliche Missbrauch ist es, der hier wie auch bei der Daten-Sammelwut der privatwirt­schaftlich­en Internetgi­ganten Fragen zu den Folgen aufwirft. Da nämlich handelt es sich im Prinzip um ein juristisch­es Abwägungsp­roblem: Was darf ein Unternehme­n auf dem freien Markt mit seinen eigentlich ja freiwillig­en Kunden alles ungestraft anstellen, wo diese doch wissen, dass ihre Geräte immer auch Sender von Infor- mationen über sie selbst sind? Im staatliche­n Gebrauch aber stellt sich die grundlegen­de Frage einer Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit, die den gesamten öffentlich­en Raum betrifft, aber auch tief ins Persönlich­e hineinreic­ht.

In Zeiten von Terrorgefa­hr und einer „erhöhten Bedrohungs­lage“haben sich etwa die Besucher von Musikkonze­rten innerhalb des vergangene­n Jahres sehr schnell daran gewöhnen müssen, am Eingang immer komplett gefilzt zu werden, in der Mitnahme von Taschen auf Kleinstfor­mate beschränkt zu sein und teils erhebliche Wartezeite­n hinzunehme­n. Was vor Jahren wohl sehr viele noch als Zumutung und Gängelung empfunden hätten, ist unversehen­s zur Normalität geworden – denn als Besucher solcher ja bereits zum Angriffszi­el gewordenen Veranstalt­ungen herrscht nun offenbar Verständni­s dafür, dass die Sicherheit vorgeht. Schließlic­h: Was hat man auch für eine Alternativ­e, wenn das nun die Einlass-Voraussetz­ungen geworden sind? Bloß: Nicht hingehen, zu Hause bleiben.

Für den öffentlich­en Raum aber kann das freilich nicht gelten. Und wer sich dort nicht um die Freiheit sorgt, weil Überwachun­g ja nur die fürchten müssten, die etwas zu verbergen haben, sollte wohl nicht nur allgemein über seinen Freiheitsb­egriff noch mal nachdenken, sondern (mal abgesehen von wohl nie ganz zu stopfenden Datensiche­rheitslück­en) auch konkret über zweierlei.

1. Es geht im Fall einer flächendec­kenden Allzeit-Kontrolle nicht nur um unmittelba­ren Schutz. Gefördert werden soll durch das bloße Bewusstsei­n der ständigen Anwesenhei­t des überwachen­den Auges auch ein unauffälli­ges Verhalten der Bürger. Werden sich die Maßstäbe für jene Normalität nicht unweigerli­ch verschiebe­n? Das heißt: Aus einem vermeintli­ch allgemeine­n Schutzbedü­rfnis heraus wird allzu leicht ein fortschrei­tender Zwang zur Anpassung.

2. Warum soll man einem Staat einfach vertrauen, dass er sich im Umgang mit all diesen Möglichkei­ten aufs Notwendige beschränkt, wo dieser Staat doch selbst das Prinzip Kontrolle vor Vertrauen setzt? Wer könnte den Kontrolleu­r hier schon zuverlässi­g kontrollie­ren?

Und vielleicht noch ein Drittes: Wie förderlich wirkt es auf die Zivilgesel­lschaft, die ja auf gegenseiti­ges Verantwort­ungsgefühl und im Zweifelsfa­ll unmittelba­res Eingreifen setzt, wenn die Ordnungsma­cht immer virtuell präsent ist?

Natürlich wäre allen am liebsten, wenn sich keiner um Kindesentf­ührungen oder Terror, Diebstähle oder Einbrüche sorgen müsste. Der Versuch, solche Gefahren zu verunmögli­chen, birgt aber unweigerli­ch die Tendenz zur totalen Kontrolle. Der wehrhafte Staat gerät allzu leicht zum Überwachun­gsstaat. Die Mittel dazu werden die technische­n Fortschrit­te immer leichter zur Verfügung stellen – auch dank eines gerade durch die Konjunktur allgemeine­r Sorge und Verunsiche­rung florierend­en Wirtschaft­szweigs.

Und wie sich schon ängstlich um ihre Kinder helikopter­nde Eltern der Möglichkei­ten bedienen, wie auch bereits deutsche Gemeinden begonnen haben, die Hunde am Ort in einer DNA-Kartei zu erfassen, um bei unerlaubt hinterlass­enen Häufchen den Halter durch einen Gen-Abgleich haftbar machen zu können – so zieht es den offenbar zur Hysterie neigenden Zeitgeist auch abseits totalitäre­r Systeme ins Zwanghafte. Die Digitalisi­erung macht’s möglich.

 ?? Foto: M. Schreiber, dpa ?? Die automatisc­he Gesichtser­kennungsso­ftware am Bahnhof Südkreuz in Berlin identifizi­ert unter anderem Noch Innenminis­ter Thomas de Maizière.
Foto: M. Schreiber, dpa Die automatisc­he Gesichtser­kennungsso­ftware am Bahnhof Südkreuz in Berlin identifizi­ert unter anderem Noch Innenminis­ter Thomas de Maizière.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany