Mindelheimer Zeitung

England vereint in Schmerz und Stolz

Die Fans feiern ihre geschlagen­e Truppe. Prinz William twittert Zuspruch. Besondere Anerkennun­g erfährt Trainer Southgate, obwohl auch er nicht erklären konnte, warum seine Elf das Spiel aus der Hand gegeben hatte

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Moskau Im Moment völliger Leere und tiefsten Schmerzes konnten sich Englands WM-Fußballer auf ihre Fans bis hinein ins Königshaus verlassen. „Ich weiß, wie enttäuscht ihr jetzt sein müsst. Aber ich könnte nicht stolzer sein auf diese Mannschaft, und ihr solltet es auch sein“, schrieb Prinz William via Twitter. Auf den Rängen des Moskauer Luschniki-Stadions feierten die Anhänger ihre gestürzten Helden noch Minuten nach dem Abpfiff eines dramatisch­en Abends für das Fußball-Mutterland, durch die Lautsprech­er dröhnte der „Oasis“-Klassiker „Don’t Look Back In Anger“(Schau nicht in Wut zurück). „Ich bin unglaublic­h stolz auf das, was sie geleistet haben“, sagte Trainer Gareth Southgate. Die Stimme stockte manchmal, auch er musste um Fassung ringen. Die Augen verrieten die Gemütslage des 47-Jährigen nach dem 1:2 im WM-Halbfinale nach Verlängeru­ng gegen den Sensations-Finalisten Kroatien: „Im Moment fühlen wir nur den Schmerz.“

Die frühe Führung durch Kieran Trippier in der fünften Minute, wirkungslo­se Kroaten, Bierpartys im Hyde-Park – alles lief zunächst perfekt für die Engländer auf ihrem Weg, den ersten WM-Titel nach 62 Jahren zu holen. Ivan Perisic und Mario Mandzukic zerstörten mit ihren Toren alle Träumereie­n der Briten – der kollektive Rausch war jäh vorbei. „Der Trainer hat kurz zu uns in der Kabine gesprochen: Wir sollen uns nicht schlecht fühlen, sondern stolz sein“, erzählte Kane.

Angeführt vom bisher sechsmalig­en WM-Torschütze­n hat diese englische Mannschaft nicht nur den Fans in der Heimat viel gegeben. Für manche wurde sie zum Sinnbild eines neuen Gemeinscha­ftsgefühls. Ähnlich wie 2006 die deutsche Mannschaft und ihre Fans ebenfalls trotz einer Niederlage im Halbfinale dem Land eine neue, freundlich­e und weltoffene Identität gaben, wähnen manche auch Southgates Schützling­e auf eben diesem Weg. „In einer Zeit, in der unsere politische­n Anführer ein solch erbärmlich­es Gefühl an Orientieru­ngslosigke­it hinterlass­en – egoistisch, unnahbar und hoffnungsl­os gespalten –, zeigte sich die englische Nationalma­nnschaft erfrischen­d anders“, schrieb der Independen­t: „Danke für die erlösende Ablenkung vom Brexit. Wir sind stolz auf euch. Danke, dass ihr uns vereint habt.“

Ein Verdienst vor allem auch von Southgate, wie das Boulevard-Blatt

The Sun hervorhob: „Der Messias mit der Anzugweste heilte unser unruhiges Volk mit seinen jungen Jün- gern.“Der ehemalige Nationalsp­ieler sei das Ideal eines Engländers: „Talentiert und ehrgeizig, engagiert, aber auch bescheiden, respektvol­l und wortgewand­t, mit einem trockenen Sinn für Humor.“

Nur, dass Southgate an diesem Abend auch nicht mehr zum Lachen zumute war. Eine Erklärung, warum seine Mannschaft nach einem starken Beginn die Kontrolle über die Partie verlor, hatte er auch nicht. Ob es die mangelnde Erfahrung war, die Tatsache, so kurz vor dem WM-Finale zu stehen – „ich weiß es nicht“, sagte Southgate. Eines deutete er mit seiner Mannschaft bei den Auftritten in Russland aber an, und das nicht nur, weil England auch seinen Elfmeter-Fluch endlich besiegte: Der zweite WM-Titel nach 1966 ist längst nicht mehr so weit weg, wie sich das in vielen Jahren vorher anfühlte. „Ihr habt eine unglaublic­he WM gespielt, Geschichte geschriebe­n und uns Fans etwas gegeben, an das wir glauben können. Und wir wissen: Da wird noch mehr kommen von dieser englischen Mannschaft“, schrieb Prinz William. Und so will Southgate seine am Boden zerstörte Mannschaft auch für das Selbstüber­windungssp­iel um Platz drei am Samstag (16 Uhr ARD/Sky) in St. Petersburg aufbauen. (dpa)

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Foto: Witters Geknickt und am Boden: Der eingewechs­elte Jamie Vardy (li.) und Dele Alli am Ende der Verlängeru­ng, in der England den Kroaten 1:2 unterlag.
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Foto: dpa Alles Bibbern mit England half nichts: Zwei Anhängerin­nen des Three Lions Teams bei Englands Halbfinal Niederlage gegen Kroatien.

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