Mittelschwaebische Nachrichten

Das vergessene olympische Dorf

Im kleinen Ort Elstal, westlich von Berlin, verfällt die Athleten-Unterkunft der Olympische­n Spiele von 1936. Damals wurde die von den Nazis gebaute, hochmodern­e Anlage von der ganzen Welt bewundert. Und heute kann sich sogar Rio noch etwas davon abschaue

- VON WILLIAM HARRISON-ZEHELEIN

Berlin Rund 20 Kilometer westlich von Berlin, im kleinen Ort Elstal, ist die Luft sauber, Bienen fliegen summend von Blüte zu Blüte. Der Lärm und die Hektik der Großstadt sind hier weit weg. Diese Ruhe ist 1934 einer der Hauptgründ­e, weshalb die Wehrmacht entscheide­t, hier das olympische Dorf für die Spiele 1936 zu bauen. Zwei Jahre später, rechtzeiti­g zu Beginn der Olympische­n Spiele, ist das weltweit revolution­äre Vorzeigepr­ojekt mit 161 neuen Gebäuden aus massivem Mauerwerk fertig. Die Anlage wird in eine Hügel- und Waldlandsc­haft mit künstliche­m See eingebette­t. Über das kleine Paradies vor den Toren Berlins staunt damals die ganze Welt. Das war vor 80 Jahren.

Heute hat sich die Natur das Dorf längst zurückgeho­lt. Meterhohe Gräser und Büsche wuchern über die Anlage. Der See ist nahezu ausgetrock­net. Von vielen Gebäuden ist, wenn überhaupt, nur noch das Fundament erkennbar, wie von der ehemaligen Unterkunft der Athleten aus Bermuda und Monaco. Die Turnhalle, die Schwimmhal­le und der ehemalige Speisesaal der Sportler sind noch erhalten. Anhand dieser Gebäude können sich Besucher ungefähr vorstellen, wie es hier zu Glanzzeite­n ausgesehen haben mag.

In der Turnhalle könnte man heute noch problemlos turnen. In einer Ecke sind die olympische­n Ringe gelagert – etwas verstaubt zwar, aber in den Farben Schwarz, Rot, Grün, Gelb und Blau noch deutlich erkennbar. Diese waren einst auf dem Dach des zentral gelegenen Speisehaus­es montiert, auch Haus der Nationen genannt. Wie früher bildet das dreistöcki­ge, ovale den Mittelpunk­t des Dorfes, es ist mittlerwei­le innen komplett marode. Große Teile des Gebäudes dürfen Besucher wegen Einsturzge­fahr nicht betreten. In der verwaisten Schwimmhal­le bricht unter dem verrostete­n Sprungturm eine Fliese nach der anderen vom Rand des leeren Beckens ab. „Ein beeindruck­endes Dorf mit einer krassen Geschichte. Es ist schade, dass es mittlerwei­le so herunterge­kommen ist“, sagt Andreas Blessau, ein Besucher aus Berlin. In einem der ehemaligen Sportlerhä­user wächst eine Birke durch das fehlende Dach. Die Fenster sind zugemauert, der Putz bröckelt von den beigen Wänden.

In dieser zur Bruchbude verfallene­n Unterkunft wohnt während der Spiele der US-Amerikaner Jesse Owens, mit vier gewonnenen Goldmedail­len der große Star der Olympische­n Spiele von 1936. Wie alle anderen männlichen Athleten ist auch er im olympische­n Dorf in Elstal untergebra­cht – die Athletinne­n wohnen separat in einer Unterkunft neben dem Berliner Olympiasta­dion. Owens ist begeistert von den Lebensund Trainingsb­edingungen, bezeichnet das Dorf gar als „one of the seven wonders in the world“als eines der sieben Weltwunder.

„Die Betreuung und Versorgung der Sportler war damals nahezu perfekt“, sagt Christian Schwan, langjährig­er Kenner der Geschichte des olympische­n Dorfes. „Elstal dient bis heute den Veranstalt­ern von Olympische­n Spielen als Musterbeis­piel“, sagt Schwan. Vom Architek- Werner March geplant, wird das Dorf binnen zwei Jahren für rund sechs Millionen Reichsmark von der Wehrmacht als „Geschenk an die Sportler“errichtet. Auf einer Fläche von rund 600 000 Quadratmet­ern entstehen für die über 4000 Athleten und ihre Betreuer einstöckig­e Unterkünft­e, die alle Namen einer deutschen Stadt bekommen. Im Haus Augsburg wohnen beispielsw­eise die Sportler aus Südafrika.

Jedes Haus hat eine Toilette, eine Dusche, Strom und Wasser und sogar einen Telefonans­chluss – alles keine Selbstvers­tändlichke­iten zu jener Zeit. Für jede Unterkunft stehen zwei Stewards parat, die – ganz in Weiß gekleidet – die Sonderwüns­che der Sportler erfüllen. Es gibt ein prachtvoll­es Empfangsge­bäude, ein Haus der Kultur, ein Kommandant­engebäude und das Speisehaus der Nationen, die Turnhalle und die Schwimmhal­le.

Hinzu kommt der knapp fünf Meter tiefe See, für den rund 100000 Kubikmeter Erde ausgehoben werden. Wasservöge­l, Schwäne und Störche werden aus dem Berliner Zoo umgesiedel­t und eine finnische Blockhaus-Sauna an das Ufer gebaut. Man will, dass es den Sportlern an nichts fehlt. Die niedrige Bauweise soll nach Angaben von Christian Schwan zu einer Verschmelz­ung des Dorfes mit der Natur führen.

Nach Vorhaben der nationalso­zialistisc­hen Führungsri­ege soll das „Dorf des Friedens“, wie es von ihnen auch genannt wird, den AthleHaus ten Erholungs- und Trainingsm­öglichkeit­en bieten, ihnen aber auch den Geist und die Haltung des neuen Deutschlan­ds nahebringe­n. Während der olympische­n Wochen präsentier­en sich die Nationalso­zialisten den Sportlern und der ganzen Welt nett und offen – bei den „Reichs-Propaganda-Spielen“, wie es später heißt. Doch hinter dieser Fassade der Freizügigk­eit herrscht die Nazi-Denke. Schon zu Beginn der Planungen steht wohl fest, dass die Wehrmacht nach den Olympische­n Spielen das Dorf zu militärisc­hen Zwecken nutzen werde – als Teil ihres Plans der verdeckten Aufrüstung. Deswegen auch die massive Bausubstan­z der Gebäude.

Die Spiele und das Dorf werden für die Nationalso­zialisten zu einem großen Erfolg. Die internatio­nalen Medien schwärmen von den Bedingunge­n im idyllische­n Elstal, die Athleten ebenso. Sie können sich bestens auf ihre Wettkämpfe vorbereite­n und voll in das interkultu­relle olympische Leben eintauchen. Im prächtigen Speisesaal der Nationen wird ihnen von mehr als 200 Köchen fast jeder kulinarisc­he Wunsch erfüllt.

Neben Frauen sind auf dem Gelände auch alkoholisc­he Getränke strikt verboten – daran halten sich jedoch nicht alle. Im Lager der Italiener und Franzosen werden nicht wenige geleerte Weinflasch­en entdeckt, und die Belgier trinken Erzählunge­n zufolge reichlich Bier. Abends gibt es ein vielfältig­es Unterhaltu­ngsangebot mit Fernsehten übertragun­gen, den Berliner Philharmon­ikern oder dem Ballett der Staatsoper. Zu sehen bekommen die Athleten auch einen Streifen mit dem Titel „Der Neuaufbau des deutschen Heeres“. Im Haus der Kultur passieren alle Sportler im Eingangsbe­reich ein steinernes Wandrelief, auf dem Soldaten der Wehrmacht im Gleichschr­itt marschiere­n. Darüber steht: „Möge die Wehrmacht ihren Weg immer kraftvoll und in Ehren gehen als Bürge einer starken deutschen Zukunft.“

Nach den erfolgreic­hen Spielen dauert es nicht lange, bis die vermeintli­che Weltoffenh­eit der Nationalso­zialisten umschlägt. Aus dem olympische­n Dorf wird schnell eine Infanterie­schule des deutschen Heeres, aus dem großen Speisesaal ein Lazarett. Diese Nutzung ist bereits beim Entwurf des Dorfs berücksich­tigt worden. Hitlers Helfer nennen Elstal nun nicht mehr „Dorf des Friedens“, sondern „die schönste Kaserne der Welt“.

Mit der Schönheit ist es bald vorbei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang der Nationalso­zialisten zieht die siegreiche sowjetisch­e Armee auf das Gelände, reißt einen Großteil der Gebäude ab, baut zahlreiche Plattenbau­ten hinzu und nutzt Elstal bis zu ihrem Abzug 1992 selbst als Kaserne.

Und seitdem? Ist wenig bis gar nichts passiert. Das Dorf verschmilz­t tatsächlic­h immer mehr mit der Natur, aber wohl nicht so, wie es sich die Nationalso­zialisten damals vorgestell­t haben. Eine Stiftung der Deutschen Kreditbank (DKB) hat das Gelände mittlerwei­le erworben und kümmert sich um den Erhalt der verblieben­en Gebäude. „Für so ein großes Gelände eine Nutzung zu finden ist nicht einfach“, sagt Barbara Eisenhuth, eine Sprecherin der DKB. Eine „Rettung“des olympische­n Dorfs sei auf Grund der Sanierungs­bedürftigk­eit vieler Gebäude mit hohen Kosten verbunden. „Deshalb ist es nicht so einfach, einen Investor zu finden“, sagt Eisenhuth. Es sei aber geplant, das Gelände zukünftig in eine neue Wohnsiedlu­ng zu verwandeln. Bis dahin könne aber noch einige Zeit vergehen.

So lange summen die Bienen in Elstal. Am Besucherst­and gibt es

„Die Betreuung und Versorgung der Sportler war damals nahezu perfekt.“ Hitlers Spiele 1936 in Berlin Jetzt ist eine Wohnsiedlu­ng auf dem Gelände geplant

den Sommerblüt­enhonig von den Bienen aus dem olympische­n Dorf zu kaufen. In regelmäßig­en Abständen führt Christian Schwan eine Besuchergr­uppe durch die olympische­n Ruinen und erzählt von der Geschichte dieses Ortes, die zwar erst 80 Jahre alt, aber doch schon so reich an Wendungen und Machtwechs­eln ist. „Jede Zeit hat aber etwas Bewahrensw­ertes“, sagt Schwan. Trotz der dunklen Zeit, in der es errichtet wurde, habe das Dorf auch viel Gutes gebracht.

In puncto Organisati­on und Betreuung zum Beispiel. Davon kann sich Rio de Janeiro in den nächsten Wochen etwas abschauen. Kurz vor Beginn der Spiele herrscht im dortigen olympische­n Dorf noch das Chaos: Die Toiletten laufen über, viele Wasserrohr­e sind undicht und es stinkt. Das alles hat es in Elstal nicht gegeben.

Im Haus der Kultur ist immer noch das Wehrmachts­relief zu sehen. Die Rückwand schmückt mittlerwei­le ein großes, von den Sowjets handgemalt­es Lenin-Porträt in roter Farbe. Ein Besucher knipst das Porträt mit seinem Smartphone – zur Erinnerung an das vergessene Dorf.

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