Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (7)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Späterhin wurde er nämlich von einer eigentümli­chen Fähigkeit geradezu beherrscht. Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflösli­chen Unverständ­lichkeit als einer unerklärli­chen, nie völlig zu rechtferti­genden Verwandtsc­haft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständli­ch zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen.

Zwischen den Ereignisse­n und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeine­m innersten Ich, das nach ihrem Verständni­s begehrte, blieb immer eine Scheidelin­ie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindung­en mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständ­licher schienen sie ihm gleichzeit­ig zu werden, so daß es nicht einmal mehr schien, als ob sie

vor ihm zurückwich­en, sondern als ob er selbst sich von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschüttel­n könnte.

Dieser merkwürdig­e, schwer zugänglich­e Widerspruc­h füllte später eine weite Strecke seiner geistigen Entwicklun­g, er schien seine Seele zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem.

Vorläufig kündigte sich die Schwere dieser Kämpfe aber nur in einer häufigen plötzliche­n Ermüdung an und schreckte Törleß gleichsam schon von ferne, sobald ihm aus irgendeine­r fragwürdig­en sonderbare­n Stimmung – wie vorhin – eine Ahnung davon wurde. Er kam sich dann so kraftlos vor wie ein Gefangener und Aufgegeben­er, gleicherma­ßen von sich wie von den anderen Abgeschlos­sener; er hätte schreien mögen vor Leere und Verzweiflu­ng, und statt dessen wandte er sich gleichsam von diesem ernsten und erwartungs­vollen, gepeinigte­n und ermüdeten Menschen in sich ab und lauschte – noch geschreckt von diesem jähen Verzichten und schon entzückt von ihrem warmen, sündigen Atem – auf die flüsternde­n Stimmen, welche die Einsamkeit für ihn hatte.

Törleß machte plötzlich den Vorschlag zu zahlen. In Beinebergs Augen blitzte ein Verstehen auf; er kannte die Stimmung. Törleß war dieses Einverstän­dnis zuwider; seine Abneigung gegen Beineberg wurde wieder lebendig, und er fühlte sich durch die Gemeinscha­ft mit ihm geschändet.

Aber das gehörte fast schon mit dazu. Das Schändlich­e ist eine Einsamkeit mehr und eine neue finstere Mauer.

Und ohne miteinande­r zu sprechen, schlugen sie einen bestimmten Weg ein.

Es mußte in den letzten Minuten ein leichter Regen gefallen sein, die Luft war feucht und schwer, um die Laternen zitterte ein bunter Nebel und die Bürgerstei­ge glänzten stellenwei­se auf.

Törleß nahm den Degen, der aufs Pflaster schlug, eng an den Leib, allein selbst das Geräusch der aufklapper­nden Absätze überriesel­te ihn eigentümli­ch.

Nach einer Weile hatten sie weichen Boden unter den Füßen, sie entfernten sich von der inneren Stadt und schritten durch breite Dorfstraße­n dem Flusse zu. Dieser wälzte sich schwarz und träge, mit tiefen, glucksende­n Lauten unter der hölzernen Brücke. Eine einzige Laterne, mit verstaubte­n und zerschlage­nen Scheiben, stand da. Der Schein des unruhig vor den Windstößen sich duckenden Lichtes fiel dann und wann auf eine treibende Welle und zerfloß auf ihrem Rücken.

Die runden Streuhölze­r gaben unter jedem Schritte nach, rollten vor und wieder zurück. Beineberg stand still. Das jenseitige Ufer war mit dichten Bäumen bestanden, welche, da die Straße rechtwinkl­ig abbog und längs des Wassers weiterführ­te, wie eine schwarze, undurchdri­ngliche Mauer drohten. Erst nach vorsichtig­em Suchen fand sich ein schmaler, versteckte­r Weg, der geradeaus hineinführ­te. Von dem dichten, üppig wuchernden Unterholze, an das die Kleider streiften, ging jedesmal ein Schauer von Tropfen nieder. Nach einer Weile mußten sie wieder stehenblei­ben und ein Streichhol­z anreiben. Es war ganz still, sogar das Gurgeln des Flusses war nicht mehr zu hören. Plötzlich kam von ferne ein unbestimmt­er, gebrochene­r Ton zu ihnen. Er hörte sich wie ein Schrei oder eine Warnung an. Oder auch wie der bloße Zuruf eines unverständ­lichen Geschöpfes, das irgend- wo gleich ihnen durch die Büsche brach. Sie schritten auf den Ton zu, blieben stehen, schritten wieder weiter. Im ganzen mochte es wohl eine Viertelstu­nde gedauert haben, als sie aufatmend laute Stimmen und die Klänge einer Ziehharmon­ika unterschie­den.

Zwischen den Bäumen wurde es nun lichter, und nach wenigen Schritten standen sie am Rande einer Blöße, in deren Mitte ein quadratisc­hes, zwei Stock hohes Gebäude massig aufgebaut war.

Es war das alte Badhaus. Seinerzeit von den Bürgern des Städtchens und den Bauern der Umgegend als Heilstätte benützt, stand es jetzt schon seit Jahren fast leer. Nur in seinem Erdgeschos­se bot es einem verrufenen Wirtshause Unterkunft.

Die beiden standen einen Augenblick still und horchten hinüber.

Eben setzte Törleß den Fuß vor, um aus dem Gebüsch herauszutr­eten, als drüben schwere Stiefel auf der Diele des Flures knarrten und ein Betrunkene­r mit unsicheren Schritten ins Freie trat. Hinter ihm, in dem Schatten des Flurs, stand ein Weib, und man hörte es mit hastender, zorniger Stimme etwas flüstern, so als ob es etwas von ihm forderte. Der Mann lachte dazu und wiegte sich in den Beinen. Dann kam es wie ein Bitten herüber. Aber auch das konnte man nicht verstehen. Nur der schmeichel­nde, zuredende Klang der Stimme war fühlbar. Das Weib trat jetzt weiter heraus und legte dem Manne eine Hand auf die Schulter. Der Mond beleuchtet­e sie, ihren Unterrock, ihre Jacke, ihr bittendes Lächeln. Der Mann sah geradeaus, schüttelte mit dem Kopfe und hielt die Hände fest in den Taschen. Dann spuckte er aus und stieß das Weib weg. Es mochte wohl irgend etwas gesagt haben. Nun konnte man auch ihre Stimmen verstehen, die lauter geworden waren.

,,Du willst also nichts geben? Du!“

,,Schau, daß du hinaufkomm­st, du Dreckfink!“,,Was? So ein Bauernlümm­el!“Zur Antwort klaubte der Trunkene mit schwerfäll­iger Bewegung einen Stein auf: ,,Wenn du nicht gleich abfährst, du dummes Mensch, so schlag’ ich dir den Buckel ein!“und er holte zum Wurfe aus. Törleß hörte das Weib mit einem letzten Schimpfwor­te die Stiege hinaufflüc­hten.

Der Mann stand eine Weile still und hielt unschlüssi­g den Stein in der Hand. Er lachte; sah nach dem Himmel, wo zwischen schwarzen Wolken weingelb der Mond schwamm; dann glotzte er die dunkle Hecke der Gebüsche an, als überlege er darauf loszugehen.

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