Mittelschwaebische Nachrichten

Einladung vom „Oberbefehl­shaber“

FDP-Chef Lindner vergleicht die Türkei mit Deutschlan­d 1933. Die Großkundge­bung in Istanbul mit einer Million Teilnehmer gerät aber auch zu einer Beschwörun­g der nationalen Einheit – trotz Erdogans Einlassung zur Todesstraf­e

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Istanbul Nicht nur als Staatschef bittet Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabe­nd zur Mega-Kundgebung gegen den Putschvers­uch vor drei Wochen: „Einladung unseres Präsidente­n und Oberbefehl­shabers an unser Volk“, steht auf den allgegenwä­rtigen Transparen­ten für die „Demokratie- und Märtyrer-Versammlun­g“, zu der rund eine Million Menschen in Istanbul zusammenge­kommen sind. Die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu spricht gar von bis zu fünf Millionen Teilnehmer­n.

Auf dem in Rot gehaltenen Transparen­t abgebildet: ein Zivilist, auf seinem Hemd die türkische Flagge mit Halbmond und Stern, der sich einem Putschiste­n-Panzer in den Weg stellt. Solche Bilder hätten sich aus Sicht Ankaras weltweit als Symbol für den niedergesc­hlagenen Putsch durchsetze­n sollen: Der mutige Widerstand der Zivilisten, der den Umsturzver­such vom 15. Juli tatsächlic­h erst scheitern ließ – und etliche Menschen ihr Leben kostete. Doch der Westen feierte nicht wie gewünscht den „Sieg der Demokratie“, sondern koppelte die – aus türkischer Sicht halbherzig­en – Verurteilu­ngen des Putsches mit Ermahnunge­n an Erdogan, eben jene Demokratie nun nicht gänzlich über Bord zu werfen. Aber auf diese beruft sich auch Erdogan, selbst wenn er wie gestern Abend die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e in Aussicht stellt: „Wenn es (das Volk) so eine Entscheidu­ng trifft, dann, glaube ich, werden die politische­n Parteien sich dieser Entscheidu­ng fügen“, so Erdogan in seiner Rede und als Reaktion auf „Todestrafe, Todestrafe!“-Rufe aus dem Publikum.

Der türksche Staatspräs­ident galt in EU-Hauptstädt­en schon zuvor als „Enfant terrible“, und die von ihm sogenannte­n „Säuberunge­n“nach dem Putschvers­uch haben es westlichen Staaten nicht leichter gemacht, sich an seine Seite zu stellen – ganz im Gegenteil. Keine Einladung für westliche Solidaritä­tsbekundun­gen sind auch Aussagen wie die von Wirtschaft­sminister Nihat Zeybekci, der den Putschiste­n droht, sie würden „wie Kanalratte­n krepieren“.

Ankara kritisiert, dass sich seit dem Putschvers­uch kein einziger EU-Außenminis­ter im Land blicken ließ, um Unterstütz­ung zu zeigen. Und inzwischen eskaliert der Streit mit der EU, wozu Österreich kräftig beiträgt: Die Alpenrepub­lik fordert einen Stopp der EU-Beitrittsv­er- und will auch den Flüchtling­spakt und die Verhandlun­gen über Visafreihe­it beenden. Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu rüstet parallel dazu verbal auf – und nennt Österreich das Zentrum des „radikalen Rassismus“. Selbst Nazi-Analogien sind längst nicht mehr tabu. „Wir erleben einen Staatsputs­ch von oben wie 1933 nach dem Reichstags­brand“, so der FDP-Chef Christian Lindner gestern in der Bild am Sonntag. Er deutet damit auch an, dass Erdogan den Putschvers­uch inszeniert haben könnte. Doch nicht einmal Erdogans ärgste Gegner im Parlament in Ankara glauben an diese Verschwöru­ngstheorie. Erdogan versichert seinerseit­s, er sei „kein Despot oder Diktator“. Der Präsident sucht seit dem Putschvers­uch den Schultersc­hluss mit weiten Teilen der parlamenta­rischen Opposition, wobei er allerdings die pro-kurdische HDP außen vor lässt.

Auf Erdogans Einladung standen bei der Kundgebung am Sonntagabe­nd nicht nur Ministerpr­äsident und AKP-Chef Binali Yildirim, sondern auch Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu von der Mitte-Linkshandl­ungen Partei CHP und der Vorsitzend­e der nationalis­tischen MHP, Devlet Bahceli, auf der Bühne – und sangen in seltener Eintracht die Nationalhy­mne. Zusammen repräsenti­eren sie mehr als 85 Prozent des Wählerwill­ens. Yildirim hatte seine Partei zuvor schriftlic­h angewiesen, die Demonstrat­ion in Istanbul nicht in AKP-Festspiele ausarten zu lassen. Entspreche­nde Slogans sind unerwünsch­t, Anhänger sollen keine Parteiflag­gen mitbringen – nur die Flagge der Türkei soll geschwenkt werden. Und die Demonstran­ten hielten sich größtentei­ls daran. Medienberi­chten zufolge haben die Behörden 2,5 Millionen türkische Flaggen für die Großkundge­bung am Marmaramee­r vorbereite­n lassen.

Drei gigantisch­e Flaggen sollen Einheit signalisie­ren

Schon Stunden vor Beginn hat sich in Yenikapi eine Menge versammelt, über der drei gigantisch­e Flaggen wehen, auch sie sollen die Einheit der Nation signalisie­ren: In der Mitte die türkische Flagge, links davon eine mit Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk, rechts das Konterfei Erdogans. Ob der Plan aufgeht, das Land nach unruhigen Wochen wieder zu befrieden, bleibt allerdings offen.

Diese Woche wird Erdogan seine erste Auslandsre­ise seit dem Putschvers­uch antreten. Sie führt ihn nicht in den Westen, dessen Haltung zu dem Umsturzver­such der Staatschef „unentschul­dbar“nennt. Am Dienstag wird Erdogan stattdesse­n von „seinem Freund“, dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin in St. Petersburg empfangen werden. Putin hatte Erdogan am Putschwoch­enende angerufen und sich Ermahnunge­n verkniffen. Die Reise könnte einen weiteren Schritt Erdogans und der Türkei markieren – weg von der EU. Can Merey, dpa

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Foto: Turkey’s Presidenti­al Press, afp Schon am frühen Abend strömten Hunderttau­sende zu der Großkundge­bung gegen den Putschvers­uch in Istanbul. Insgesamt gingen Beobachter von rund einer Million Teilnehmer aus.

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