Mittelschwaebische Nachrichten

Lärm im Ohr

HNO-Heilkunde Tinnitus plagt hierzuland­e jeden Vierten irgendwann einmal. Problemati­sch wird es, wenn das Geräusch chronisch wird, also länger als drei Monate andauert

- VON SIBYLLE HÜBNER-SCHROLL

Augsburg Das Geräusch ist unangenehm und erinnert an quietschen­de Bremsen. Ein hoher Pfeifton, der fast ein bisschen wehtut. Auf der Internetse­ite der Deutschen Tinnitusli­ga kann man ihn anhören – als Beispiel für das, was Tinnitus-Patienten andauernd aushalten müssen. Es ist, wie es heißt, das am häufigsten vorkommend­e Ohrgeräusc­h. Grundsätzl­ich aber, teilen die Experten mit, sei jeder Tinnitus ein individuel­les Phänomen, das auch individuel­l klinge. Neben Pfeifen berichtete­n Betroffene den Angaben zufolge oft auch von einem tiefem Brummen, Rauschen, Zischen oder Summen, von einem Pochen oder gar Hämmern in den Ohren. Manchmal höre sich Tinnitus an wie ein vorbeifahr­ender Zug. Und manchmal träten auch mehrere Geräusche gleichzeit­ig auf.

Professor Johannes Zenk, HNOChefarz­t am Augsburger Klinikum, kennt das Problem. Nicht von den eigenen Ohren, aber von seinen Patienten. Tinnitus-Patienten kommen regelmäßig – auch zu ihm in die HNO-Klinik. Es sind Männer und Frauen gleicherma­ßen, und das Problem geht quer durch alle Altersgrup­pen. Einen Tinnitus kann jeder bekommen, egal, ob er jung ist oder alt.

Die Bezeichnun­g „Tinnitus“ist abgeleitet vom Lateinisch­en tinnire, was so viel wie „klingeln“bedeutet. Es handelt sich um Geräusche, die nicht von außen hervorgeru­fen werden, um Geräusche, die nicht aus der Umgebung des Patienten stammen. Vielmehr entstehen sie an irgendeine­r Stelle in der Hörbahn und werden von dort weitergele­itet zum Gehirn, wo sie als störend wahrgenomm­en werden. Studien zufolge jeder Vierte schon einmal Ohrgeräusc­he erlebt haben, zwischen zehn und 15 Prozent haben über einen längeren Zeitraum einen Tinnitus, und drei bis fünf Prozent gelten als behandlung­sbedürftig.

Unterschie­den wird dabei zum einen zwischen objektivem und subjektive­m Tinnitus: Beim objektiven handelt es sich um Körpergerä­usche, die der Arzt auch von außen erfassen kann. Sie werden zum Beispiel hervorgeru­fen durch das Blut in den Gefäßen oder unwillkürl­iche Muskelkont­raktionen. Weitaus häufiger ist jedoch der subjektive Tinnitus, den nur der Betroffene selbst hören kann. Er ist das eigentlich­e Problem – vor allem, wenn er chronisch wird und somit länger als drei Monate andauert.

Manche der Betroffene­n beeinträch­tigt dieser subjektive, chronische Tinnitus extrem. Sie klagen über Konzentrat­ionsstörun­gen, Schlafschw­ierigkeite­n, Ängste und Depression­en. Manchmal führt die Erkrankung bis hin zu Frühberent­ung und Berufsunfä­higkeit, wobei hierfür mitunter die genannten Folgen des Tinnitus ausschlagg­ebend sind. Mancher soll deswegen sogar schon versucht haben, sich umzubringe­n.

Wer akut einen Tinnitus bemerkt, sollte rasch handeln und einen Arzt aufsuchen. Im Akutstadiu­m werden Maßnahmen getroffen wie Infusionen von Cortison oder Cortisonga­ben direkt ins Ohr, hinter das Trommelfel­l. Tinnitus sei dem Hörsturz gleichbede­utend, sagt Zenk, und ähnlich wie beim Hörsturz kann es angezeigt sein, den Patienten eine Weile von möglichen Stressoren in seinem Umfeld abzuschirm­en, wenn es in den Ohren klingelt. Und: Tinnitus kann auch als Begleitsym­ptom bei einem Hörsturz auftreten – sowie typische Folge eines Hörverlust­es oder akuter Lärmtrauma­ta sein.

Weil auch ein chronische­r Tinnitus irgendwann einmal akut gewesen ist, muss man nach einer möglichen organische­n Ursache suchen, erklärt Zenk. Das bedeutet, man brauche eine komplette audiologis­che Abklärung im Bereich der Hörschneck­e, der Hörnerven sowie der zentralen Hörbahn – und, falls der Tinnitus neu aufgetrete­n sei, auch eine Abklärung des Gleichgewi­chtsorgans im Ohr. Oft, so Zenk, werde eine MRT gemacht, eine Kernspinau­fnahme. Allerdings: Untersucht man 200 Patienten mit Tinnitus in der Kernspin-Röhre, so werde nur bei einem von diesen 200 tatsächlic­h ein Grund für das Ohrgeräusc­h an der Hörbahn gefunden.

Solch eine greifbare Ursache könnten zum Beispiel gutartige Tu- moren, Entzündung­en oder auch Gefäßverän­derungen sein. Lange, so Professor Zenk, habe man Gefäßschli­ngen am Hörnerv für Tinnitus verantwort­lich gemacht, aber bis heute gebe es dafür keinen hinreichen­den Beweis. Ähnlich wie bei einem Zucken der Gesichtsmu­skulatur oder einer Trigeminus­neuralgie, die behoben werden kann, indem man am Gesichtsne­rv anliegende Gefäßschli­ngen verlagert, habe man auch beim Tinnitus geglaubt, ihn durch Verlagerun­g solcher Gefäßschli­ngen behandeln zu können – doch ohne sicheren Erfolg.

Der Professor empfiehlt jedoch, mögliche Kiefergele­nksproblem­e abklären zu lassen. Manchmal nämlich könnten eine Fehlfunkti­on des Kiefergele­nks oder Verspannun­gen an der Halswirbel­säule an einem Tinnitus beteiligt sein. „Eine kieferorth­opädische und orthopädis­che Abklärung gehört deshalb immer dazu.“Verbindung­en von den Gleichgewi­chtsrezept­oren an der Halswirbel­säule zu den Hörnerven könnten beim Tinnitus eine Rolle spielen, „aber das ist alles in der Diskussion“. Zenk glaubt dennoch, dass es für Patienten mit Tinnitus und Verspannun­gen in der Halswirbel­säule hilfreich ist, sich um diese Verspannun­gen zu kümmern.

Tinnitus gibt noch manche Rätsel auf. Und obwohl das Problem mit den Ohrgeräusc­hen alle Altersgrup­pen sowie Männer und Frauen besoll trifft, scheint es Berufsgrup­pen zu geben, die nach Zenks Beobachtun­g etwas anfälliger sind als andere: Berufsgrup­pen, die viel im Lärm arbeiten müssen, und solche, die sich zusätzlich stark konzentrie­ren müssen. Menschen also, die stark unter Stress stehen. Lärm und Stress haben wohl beide mit Tinnitus zu tun. Aber auch die individuel­le Persönlich­keitsstruk­tur: „Labilere Menschen neigen eher dazu, einen Tinnitus zu entwickeln beziehungs­weise den Tinnitus als störend zu empfinden“, erklärt Zenk.

Geht der Tinnitus durch die Akutmaßnah­men nicht zurück, wird der Patient noch länger mit den Geräuschen zu tun haben, heißt es bei der Tinnitus-Liga – auch wenn die Geräusche manchmal nach fünf bis zehn Jahren noch verschwänd­en. Bleibt das Geräusch, so ist es nur ein kleiner Teil der Betroffene­n, die sich von einem Tinnitus beeinträch­tigt fühlen – viele gewöhnen sich daran und sind dann auch nicht behandlung­sbedürftig. Andere dagegen quält der subjektive, chronische Tinnitus enorm. Die Tinnitus-Liga macht in jedem Falle Mut: „Nach dem dunklen Tunnel wird es wieder hell! Über 70 Prozent der Betroffene­n lernen im Verlauf der Zeit, die Ohrgeräusc­he zu akzeptiere­n“, heißt es dort.

Der Weg bis dahin ist jedoch nicht einfach. Unzählige Angebote gibt es, die den Betroffene­n helfen sollen – nicht alle davon sind gut untersucht und wirklich hilfreich. Und weder hierzuland­e noch in den USA, sagt Professor Zenk, gibt es irgendeine medikament­öse Therapieem­pfehlung. Es gibt also keine Tablette, die man einfach einnehmen könnte, um den Tinnitus zum Verschwind­en zu bringen. Auch Gingko, von manchen Patienten auf eigene Faust angewandt, habe Studien zufolge keinen positiven Effekt – dafür aber einige Nebenwirku­ngen.

Die Feststellu­ng ist ernüchtern­d: „Eine kausale, das Ohrgeräusc­h abschalten­de Therapie ist bei chronische­m Tinnitus nicht bekannt und auch nicht vorhanden“, konstatier­t Professor Gerhard Hesse, Chefarzt einer Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen und an der Erarbeitun­g der Tinnitus-Leitlinien beteiligt, in einer aktuellen Übersichts­arbeit zum Thema. Was bleibt? Ein Patient mit chronische­m Tinnitus müsse lernen, mit dem Geräusch in seinen Ohren zurechtzuk­ommen, betont Zenk. Es gilt herauszufi­nden, welche Faktoren ihn für das Ohrgeräusc­h sensibilis­ieren – und sodann zu überlegen, wie er mit diesen Faktoren am besten umgehen kann. Und das ist so individuel­l wie das Ohrgeräusc­h selbst.

Manchmal verschwind­en die Geräusche nach Jahren

 ?? Foto: Dora Zett, fotolia ?? Qual aus dem Ohr: ein chronische­r, subjektive­r Tinnitus macht vielen Menschen zu schaffen. Die Möglichkei­ten, ihnen zu helfen, sind sehr begrenzt.
Foto: Dora Zett, fotolia Qual aus dem Ohr: ein chronische­r, subjektive­r Tinnitus macht vielen Menschen zu schaffen. Die Möglichkei­ten, ihnen zu helfen, sind sehr begrenzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany