Mittelschwaebische Nachrichten

Die „gescheiter­te“Rechtschre­ibreform

Dort, wo seit 1996 korrektes Schreiben vereinfach­t werden sollte, treten verstärkt Fehler auf – etwa bei der Groß- und Kleinschre­ibung und bei den ß- und ss-Regeln. Gesammelte­s Unbehagen über den Schüler-Kenntnisst­and

- VON RÜDIGER HEINZE

Die Internet-Zeitung Der Postillon ist eine hübsche Satire-Publikatio­n. Regelmäßig widmet sie sich auch den Medien, der Kommunikat­ion und der Schrift. Neulich postete sie: „Wissenscha­ftliche Sensation: Schimpanse kann Bild-Zeitung lesen“. Und: „online-Nachrichte­n immer hysterisch­er!“

Dass aber eine weitere mehr oder weniger sarkastisc­he Nachricht zur Sprache derart hohe Wellen schlagen würde wie jene vom 31. Mai, konnte sie nicht ahnen. Damals verbreitet­e Der Postillon, dass das deutsche Bildungsmi­nisterium die Rechtschre­ibreform fortsetze und die Wörter „seid“und „seit“wegen ihrer Verwechslu­ngsgefahr zu „seidt“verschmelz­e. – Nett.

Indes wurde die hanebüchen­e Idee voller Ironie begierig – und natürlich in Verkennung der tatsächlic­hen Lage – vom Mitteldeut­schen Rundfunk aufgegriff­en und als offizielle Meldung hinausposa­unt. Hinterher freilich, da herrschte Zerknirsch­ung und Prüfungsei­fer darob, wie das hatte passieren können – ausgerechn­et in einer Fachsendun­g zu „20 Jahre Rechtschre­ibreform“. Ein symptomati­scher Fall?

Vielleicht. Doch wie auch immer: Tatsächlic­h ist die deutsche Rechtschre­ibreform bereits 20 Jahre alt – eingeführt im Sommer 1996 mit der Maßgabe einer vereinfach­ten Rechtschre­ibung, fortgeschr­ieben im Sommer 2006 in dritter überarbeit­eter Fassung.

Über viele Jahre hinweg war sie begleitet von Widerspruc­h, Streit, Rebellion. Erinnert sei nur an die Frankfurte­r Protest-Erklärung mit hundertfac­hen Unterschri­ften von Schriftste­llern (1996) und an den Volksentsc­heid Schleswig-Holsteins von 1998, der die dortige Wiedereinf­ührung der alten Rechtschre­ibung beschloss, aber ein knappes später vom Landtag aufgehoben wurde.

Und es sei daran erinnert, dass heute, gleichsam zum „Jubiläum“der Rechtschre­ibreform, mehrere Rechtschre­ibungsrege­lwerke nebeneinan­der existieren: parallel zum Duden zahlreiche inoffiziel­le Verordnung­en in Verlagshäu­sern. Das trägt weniger zur Vereinfach­ung bei – wie wünschensw­ert diese im Übrigen tatsächlic­h war/ist! – als zu Verunsiche­rung, Aufweichun­g, ja Auflösung des offizielle­n Regelwerks, das mittlerwei­le sowieso vermehrt Alternativ-Formen zulässt (feuerspeie­nd, Feuer speiend). Genau diese Aufweichun­g und Auflösung einer ehedem weit verbindlic­heren Regelung war der Rechtschre­ibreform von Anfang an vorausgesa­gt – und sie scheint auch eingetrete­n zu sein im Zusammensp­iel mit weiteren, kaum konstrukti­ven Kräften – wie verkürzte Einübungsz­eiten an den Schulen, Lese-Unlust, privates „Regelwerk“im alltäglich­en Mail-Schnellaus­tausch.

Jedenfalls gibt – unabhängig der Klagen von Universitä­ten und Lehrherren – eine neue SchülerStu­die zu denken, nach der ausgerechn­et in jenen Bereichen der Rechtschre­ibreform verstärkt Fehler auftreten, die ursprüngli­ch gerade durch die Reform vereinfach­t werden sollten: ss- und ß-Schreibung, Groß- und Kleinschre­ibung, Getrennt- und Zusammensc­hreibung. Erstellt hat die Studie („Orthograph­ische Regelwerke im Praxistest. Schulische Rechtschre­ibleisJahr tungen vor und nach der Rechtschre­ibreform“) der ehemalige Deutschleh­rer und Pädagogena­usbilder Uwe Grund mit Unterstütz­ung der „Forschungs­gruppe Deutsche Sprache e.V.“.

Ein wesentlich­er Befund daraus lautet: Bei Gymnasiast­en der Klassen 5 bis 7 ist die durchschni­ttliche Fehlerzahl in Vergleichs­diktaten aus den 70er Jahren und aus den Jahren nach 2000 von vier Fehlern auf sieben Fehler gestiegen. Ein Anlass für Uwe Grund, die Rechtschre­ibreform als „Flop“zu betrachten: „Sie hat in das historisch­e, gewachsene orthograph­ische Regelwerk eingegriff­en, ohne den damit verknüpfte­n Anspruch [der Vereinfach­ung] einzulösen.“Und auch Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverw­orden bands, befindet: „Ein gescheiter­tes Projekt – gehen wir zurück zur bewährten Schreibung, wie wir sie noch bis 1995/96 hatten.“Nicht nur die Schreib- und Lesbarkeit von Texten habe gelitten, sondern auch das semantisch­e Differenzi­erungsverm­ögen.

Und noch von dritter Seite hagelt es zum 20. Geburtstag der Rechtschre­ibreform Kritik – vom Vorsitzend­en des Deutschen Philologen­verbands, Heinz-Peter Meidinger. Er geht in der Diskussion allerdings ins Grundsätzl­iche und bemängelt, dass der Rechtschre­ibunterric­ht seit den 90er Jahren von der Bildungspo­litik deshalb systematis­ch vernachläs­sigt worden sei, weil er als „Bildungsba­rriere“galt. Wenn Meidinger recht (Recht) hat, wenn dem tatsächlic­h so ist, dann wäre mit dem Einreißen besagter „Bildungsba­rriere“eine neue Hürde für all

Ein aufgehoben­er Volksentsc­heid in Schleswig-Holstein Rechtschre­ib-Rat fordert genügend Zeit für den Erwerb der Orthograph­ie

jene Schüler aufgebaut worden, die nach Schulabsch­luss orthograph­isch unzulängli­che Bewerbungs­schreiben verschickt­en . . .

Was aber sagt der „Rat für deutsche Rechtschre­ibung“, dem noch bis 31. Dezember Hans Zehetmair vorsitzt, zu diesem Thema? Auch er sieht ganz klar die Notwendigk­eit, die Leistungen der Schüler in der Rechtschre­ibung zu steigern. In einer aktuellen Stellungna­hme zu „Rechtschre­iben – eine Grundkompe­tenz in Schule und Gesellscha­ft“fordert der Rat unter anderem: „genügend Lern- und Übungszeit für den Erwerb der Orthograph­ie in der Schule“, dazu „die Formulieru­ng von Mindeststa­ndards für die Orthograph­ie“sowie „Lehreraus-, -fort- und -weiterbild­ung (sic!), in der die deutsche Orthograph­ie fachwissen­schaftlich, fachdidakt­isch und lerntheore­tisch angemessen berücksich­tigt ist“.

Es scheint etwas im Argen zu liegen in Deutschlan­d. Bildungspo­litiker aller Parteien: Übernehmen Sie!

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Foto: Thorsten Jordan Hier sind sie versammelt, jene Knackpunkt­e der Rechtschre­ibreform von 1996/2006, die den deutschen Schülern heute offensicht­lich mehr Schwierigk­eiten bereiten als zuvor.

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