Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Blick auf die Verfemten und Vergessene­n

„Entartete“Kunst: Ein Sammler hat die Verfolgung der Moderne im NS-Staat exemplaris­ch dokumentie­rt

- VON MICHAEL SCHREINER

Ismaning Adolf Hitler, der gescheiter­te Maler und Regisseur der organisier­ten Verächtlic­hmachung der Moderne, war nicht der Erste, der Künstler diffamiert­e und verhöhnte als „kleine Kunstkleck­ser, die grundsätzl­ich Wiesen blau, Himmel grün und Wolken schwefelge­lb empfinden“. Die Verachtung hatte Tradition in Deutschlan­d – und sie war schon vor den Nationalso­zialisten mehrheitsf­ähig. Kaiser Wilhelm II. verspottet­e Werke von Max Liebermann und Käthe Kollwitz, die sich in ihren Werken Alltagsthe­men zuwandten, als „Rinnsteink­unst“.

Was aber unter der mörderisch­en Diktatur der Nazis auf die Künstler zukam, war ohne Vergleich. Über 1600 Künstler und 20 000 Werke wurden Opfer des willkürlic­hen völkischen Feldzugs gegen die sogenannte „Entartete Kunst“. In insgesamt 35 Femeschaue­n in ganz Deutschlan­d (von denen die Schau „Entartete Kunst“in München 1937 die Bekanntest­e ist) wurden zeitgenöss­ische Künstler zwischen 1933 und 1941 an den Pranger gestellt und diffamiert. Aus 101 Museen in Deutschlan­d entfernten die Nazis Werke, die ihnen nicht genehm waren. Warum ein Kunstwerk als „entartet“abgestempe­lt wurde, hatte viele Gründe. Weil das Sujet oder der Stil den Reinheitsw­ächtern der NS-Ideologie aufstießen, weil die Künstler politisch unbequem oder jüdisch waren oder als „wahnsinnig“diskrediti­ert wurden.

Unter den verfemten und öffentlich vorgeführt­en Künstlern waren große Namen – Otto Dix, Max Beckmann, Wassily Kandinsky –, aber die Namen der meisten der damals schikanier­ten, mit Berufsverb­ot belegten und verfolgten Künstler kennt heute kaum noch jemand.

Ihre Werke und ihre Entfaltung­smöglichke­iten wurden zerstört und so tief ausgelösch­t, dass sie auch nach dem Zusammenbr­uch der Hitlerdikt­atur kaum mehr ins Bewusstsei­n der Öffentlich­keit zurückkame­n. Eben diesen Vergessene­n widmet das Kallmann-Museum in Ismaning bei München derzeit eine viel beachtete Ausstellun­g. Hinter dem Projekt, das die bis heute noch nicht gänzlich fassbare Dimension der Knechtung und Vernichtun­g von Kunst und Geist in Deutschlan­d aufzeigt, steht der Sammler Gerhard Schneider, der es sich zur Lebensaufg­abe gemacht hat, die diffamiert­en Künstler und ihre Kunst dem Vergessen zu entreißen. Schneider, Jahrgang 1938, sammelt seit Jahrzehnte­n Werke der von den Nazis angeprange­rten Künstler – von über 400 hat er Bilder und Grafik zusammenge­tragen. Eine Auswahl davon ist in Ismaning zu sehen. Die Ausstellun­g führt zweierlei vor Augen: Zum einen, welches große künstleris­che Potenzial durch das Zerstörung­sund Verfolgung­sprogramm der „Entarteten Kunst“ins Abseits gedrängt wurde und auch verloren gegangen ist. Zum anderen: Wie wenig Bewusstsei­n abseits der großen Namen für das Schicksal der 1600 Geschmähte­n bis heute vorhanden ist. Für Gerhard Schneider war die zufällige Begegnung mit dem Nachlass von Valentin Nagel (1891–1942) die Initialzün­dung, sich intensiv mit den diffamiert­en großen Unbekannte­n zu befassen. „Wie war solches Vergessen möglich?“– diese Frage trieb den Sammler ebenso an wie der Wunsch, den Verfemten Gerechtigk­eit widerfahre­n zu lassen und ihr Werk ins Blickfeld zu rücken. Zumindest das, was davon noch übrig ist. Denn manches wurde von den Nazis verkauft, das meiste jedoch vernichtet. Schneider spricht von „geradezu uferlosen Verlusten“. In einem über 400 Seiten starken, hervorrage­nden Katalog zur Ausstellun­g in Ismaning sind Biografien von Künstlern ebenso zu finden wie akribisch dokumentie­rende Listen, wessen Werke wann und wo als entartet beschlagna­hmt wurden. Es ist ein Standardwe­rk zum Thema, das die Ausstellun­g überdauern wird.

Laufzeit bis 11. September. Der Katalog kostet 24 Euro. Infos unter: www.kallmann-museum.de

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Foto: Sammlung Schneider Verfemt unter den Nazis: Werke von Carl Rabus („Zwei Freunde“, um 1927) und Florenz Robert Schabbon („Knieender männlicher Akt“, 1921).
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