Mittelschwaebische Nachrichten
Chinas Vorzeigestadt
G20 Die Regierungschefs der Industrieländer treffen sich am Wochenende in Hangzhou. Warum in der Stadt deshalb alle Fabriken abgeschaltet wurden / Von Bärbel Schwertfeger
Decken, Wände und Verkaufstheken aus schwarzbraunem Holz schlucken den Schein der Neonlampen. Erst langsam gewöhnt sich das Auge an das schummrige Licht und der Besucher erkennt, was sich in den Vitrinen stapelt: tellergroße Baumpilze, zerfaserte Wurzeln, eingelegte Kriechtiere. Hinter der Theke schütten Frauen im weißen Kittel Pulver und Kräuter in silberne Schalen, wiegen sie ab und mischen sie. Noch heute werden in der 1874 gegründeten Apotheke Hu Qingyu Tang Heilpulver, Tinkturen und Salben nach uralten Rezepturen hergestellt. Besonders beliebt sei ein Tonikum für die ewige Jugend, erzählt eine Verkäuferin.
Im angegliederten Museum erklären Schilder, die neben ausgestopften Tieren aufgestellt wurden, dass Tigerknochen etwa gut gegen Rheuma und Schmerzen sind und der Penis einer Robbe die Nieren wärmt.
Die Apotheke Hu Qingyu Tang gilt als eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Hangzhou und vielleicht lässt sich dort bald auch so mancher Staatschef mit den Wundermitteln der chinesischen Medizin versorgen. Denn am 4. und 5. September steht die rund 200 Kilometer westlich von Schanghai gelegene Stadt im Mittelpunkt der Welt. Denn dann findet dort der G20-Gipfel statt.
Für die Chinesen hatte die heutige Hauptstadt der Provinz Zhejiang schon immer eine besondere Bedeutung. Die Stadt gilt als die Wiege der chinesischen Zivilisation. Ihre Gründung liegt mehr als 2200 Jahren zurück und Marco Polo soll die Stadt im 13. Jahrhundert sogar als „schönste und erhabenste Stadt der Welt“bezeichnet haben.
Bereits damals waren der Westsee und seine Umgebung ein bekanntes Reiseziel. Dichter ließen sich von der bezaubernden Landschaft inspirieren, reiche Händler errichteten Privatvillen und vom Kaiser abgesandte Mandarine kümmerten sich um die Pflege der Kulturdenkmäler. Noch heute ist der nur zwei Meter tiefe See mit seinen Parks und Gärten, seinen Pagoden und Tempeln ein beliebtes Ziel für einheimische Touristen. Im Juni 2011 hat die Unesco den Westsee und seine Umgebung zum Weltkulturerbe erklärt.
Westlich des Sees befindet sich – umgeben von Bergen – der LingyinSi-Tempel, eines der bedeutendsten und meistbesuchten Klöster Chinas. Gegründet wurde es im Jahr 328 von einem indischen Mönch, dann mehrmals zerstört und im 20. Jahrhundert wieder neu aufgebaut. Heute bewundern Scharen von Touristen den neun Meter hohen vergoldeten Shakyamuni-Buddha und schütteln vor der Halle ihre Räucherstäbchen, damit der Rauch ihre Wünsche zu Buddha bringt. Die vergoldete Figur wurde 1956 aus 24 Einzelteilen Kampferholz geschnitzt und hat mit Sockel und Heiligenschein eine Höhe von insgesamt 19,6 Metern. Es ist der größte hölzerne Buddha Chinas und das Kloster zählt zu den größten und wohlhabendsten des Landes..
Zum Pflichtprogramm aller Besucher gehört ein Ausflug ins TeeDorf Longjing – was übersetzt Drachenbrunnen heißt. Dort wächst der berühmteste und teuerste grüne Tee Chinas. Begehrt ist er nicht nur wegen seines Geschmacks, sondern auch wegen seiner besonderen Wirkstoffe, die gut für schnelleres Denken, die Verdauung und als Mittel gegen hohen Blutdruck sein sollen.
Der kostbare Longjing-Tee wird nicht fermentiert, sondern in mehreren Durchgängen im Wok gerös- tet. In der Fußgängerzone Qinghefang in Hangzhou kann man zusehen, wie die Teeblätter in großen Pfannen gewendet werden. In der einstigen Altstadtgasse reihen sich heute unzählige Souvenirshops und Restaurants. Zwischen all dem Rummel rund um die 160 Teehäuser, die es in diesem einstigen Dorf gibt, stößt der Besucher aber auch noch auf alte Geschäfte wie eine Original-Teestube oder eben die Apotheke Hu Qingyu Tang. Dort kann man auch die Spezialitäten der Stadt probieren: Dongpo Pork etwa. Das sind zehn Zentimeter große Quadrate aus Schweinebauch, die mit Teeblättern und in Reiswein geschmort werden. Oder das in Lotosblättern eingewickelte und in Lehm gegarte Beggar’s Chicken.
Wer mehr über die große TeeKultur des Landes erfahren will, kann das westlich der Stadt gelegene Teemuseum besuchen – es ist übrigens das einzige in ganz China – und sich dort über Geschichte, Produktion und gesundheitliche Wirkungen der einzelnen Teesorten informieren.
Im nationalen Seidenmuseum lassen sich 2000 Jahre alte Seidenstoffe bewundern und der Besucher erfährt alles über die einzelnen Schritte der Seidenproduktion. Es zeigt in fünf Hallen, wie vielfältig Seide sein kann, und beleuchtet die Bedeutung der Seidenstraße einst und heute. Schließlich ist Hangzhou auch bekannt als die Seidenstadt Chinas.
Enttäuscht dürfte so mancher westliche Besucher vom Seidenmarkt sein, einer schmalen Straße mit kleinen Läden, deren Sortiment zumeist aus Standard-Bekleidung besteht. Schnäppchen findet man dort kaum, und so manches angebliche Seidenkleid ist aus Kunstfaser. Dafür gibt es zur Bluse auch gleich den passenden Mundschutz. In Hangzhou ist das durchaus eine sinnvolle Anschaffung.
Denn aus der einst schönsten Stadt Chinas ist heute längst ein Moloch mit gesichtslosen Wohnblocks, ewigen Verkehrsstaus und boomender Wirtschaft geworden. Hangzhou ist Sitz des größten chinesischen E-Commerce-Unternehmens Alibaba und wird auch gern als das Silicon Valley Chinas bezeichnet. Knapp neun Millionen Einwohner leben inzwischen dort. Kein Wunder, dass die landschaftliche Schönheit oftmals in beißendem Smog versinkt.
Doch für die aus aller Welt angereisten Staatschefs soll der Himmel wieder blau werden. Wie in China bei wichtigen Ereignissen üblich, werden dazu einfach die Fabriken geschlossen. Laut South China Morning Post müssen alle Unternehmen im Radius von 300 Kilometern um das Hangzhou Olympic Sports Expo Centre – dem Hauptort des G20-Gipfels – ihre Produktion von 26. August bis 6. September einstellen.
Überhaupt haben die Chinesen bei der Vorbereitung des Gipfeltreffens ganze Arbeit geleistet. Überall wurde die Stadt verschönt, Häuserfassaden wurden frisch angestrichen, hässliche Klimaanlagen hinter Balkonattrappen versteckt, Straßen ausgebessert und neue Bürgersteige gebaut. Alte und wenig attraktive Stadtviertel wurden mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Und für die Sicherheit sollen neben der Polizei auch mehr als 760000 Freiwillige – meist Frauen mit roten Armbändern – sorgen, die in ihrer Nachbarschaft auf Beobachtungsposten gehen.
Doch wenn der G 20-Rummel vorbei ist, werden die Touristen die Stadt am Westsee wieder stürmen. Vielleicht haben manche sogar noch das Glück, das einstige Juwel unter Chinas Städten bei blauem Himmel und klarer Sicht zu erleben.
Der Rauch der Stäbchen bringt die Wünsche direkt zu Buddha Wegen des Gipfels wurden Klimaanlagen hinter Balkonattrappen versteckt