Mittelschwaebische Nachrichten

Wie bayerische Polizisten Menschensc­hmuggler jagen

Es gab Tage, da standen 6000 Flüchtling­e an der Grenze – am Tag. Die Polizei fasste einen Schlepper nach dem anderen. Und heute? Ist es deutlich ruhiger geworden in Passau und Freilassin­g. Sind die Kontrollen dann überhaupt noch nötig? Und ob…

- VON NIKLAS MOLTER

Passau/Freilassin­g Im Halbdunkel steht er da mit seiner Taschenlam­pe. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, darüber eine Schusswest­e mit der Aufschrift „Polizei“. Ganz ruhig, fast schon gelassen klingt seine Stimme, als er in die Nacht hineinspri­cht. Was da gerade passiert? „Der Klassiker halt, unerlaubte Einreise“, sagt der junge Beamte trocken.

Der Klassiker, das ist in dieser kühlen Passauer Nacht ein junges Ehepaar, das mit dem Gesicht Richtung Wand vor dem Gebäude der Bahnhofsmi­ssion steht. Der Mann trägt eine kurze weiße Hose, rote Turnschuhe und Handschell­en. Später wird er sich als Ali, 38, aus dem Iran vorstellen. Für ihn ist diese kühle Nacht die, in der er in Deutschlan­d ankommt. Für die Polizisten, die ihn umringen, ist Ali einer von vielen. Nun muss es anlaufen, das übliche Prozedere.

Wie, das erklärt Frank Koller. Er ist Sprecher der Bundespoli­zeiinspekt­ion Passau. Ein Mann mit einem dezenten blonden Bart, einer, dem man an seiner Routine anmerkt, wie lange ihn das Thema Flüchtling­e schon beschäftig­t. Koller steht am Morgen nach Alis Festnahme in einer großen Halle, in der früher mal Lastwagen gebaut wurden. In der nun Flüchtling­e fotografie­rt, Pässe kontrollie­rt und Fingerabdr­ücke genommen werden. „Bearbeitun­gsstraße“nennt Koller diesen Ort. Es ist einer der Begriffe, die ihm so vertraut geworden sind.

Koller blickt sich um. Wer in Passau seinen Dienst tue, dürfe die Schicksale der einzelnen Menschen nicht zu sehr an sich heranlasse­n, sagt er dann. Dafür waren es einfach zu viele, die im vergangene­n Jahr über die niederbaye­rische Stadt mit ihren 50 000 Einwohnern nach Deutschlan­d eingereist sind. 4000, 5000, 6000 Flüchtling­e kamen manchmal an einem einzigen Tag. Die alte Fabrikhall­e war immer voll. „So wie jetzt hier Dienstauto­s stehen, standen hier Busse für 50 Leute“, sagt Koller und deutet in Richtung Parkplatz. Mehrere Dutzend Wagen sind jetzt dort abgestellt.

An diesem sonnigen Morgen ist in der Halle wenig los – zumindest im Vergleich zu vor einem Jahr. 41 Flüchtling­e hat die Polizei am Vortag aufgegriff­en. 39 von ihnen kamen mit dem Zug. Unter ihnen: Ali und seine Frau Fahime. In weiße Laken gehüllt und übernächti­gt sitzen die beiden mit drei anderen auf einer Bank und warten. Sechs Monate hat ihre Reise gedauert: Türkei, Griechenla­nd, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Passau-Hauptbahnh­of. Ali und Fahime lächeln schüchtern, so, als könnten sie es noch nicht glauben, dass sie jetzt hier sind. Sie hätten sich auf eigene Faust durchgesch­lagen, erzählen sie. „Kein Geld, keine Helfer.“Und nein, auch keine Schleuser, die ihnen geholfen haben. „Wir haben unsere Zugtickets selbst gekauft“, sagt Ali. Ob das alles so stimmt, wissen auch die Beamten nicht.

Schleuser. Die hat die Polizei in der Grenzregio­n vor allem im Blick, wenn sie auf der Autobahn, auf Nebenstraß­en, im Stadtgebie­t Fahrzeuge anhält. Fahrer, die Flüchtling­e nach Deutschlan­d bringen, oft im Auftrag versteckte­r Hintermänn­er und für vergleichs­weise wenig Geld. „Der Fahrer eines Schleuserf­ahrzeugs steht häufig am Ende der Nahrungske­tte“, sagt Koller. Mancher habe für eine Fahrt von Griechenla­nd nach Deutschlan­d 400 Euro bekommen. Schon mal ein Monatsgeha­lt oder gar mehr. An die 15 Schleuser gingen der Polizei in der Hochphase der Flüchtling­skrise ins Netz – jeden Tag. Damals, als ein Kastenwage­n nach dem anderen in Grenznähe stoppte. Als immer wieder Gruppen von 20, 30 Flüchtling­en auf dem Seitenstre­ifen der A 3 umherirrte­n. Als das kleine Passauer Gefängnis mit seinen knapp 80 Plätzen wegen der mutmaßlich­en Schleuser schnell überfüllt war.

Die Überbleibs­el dieser Zeit, als viel mehr Schleuser kamen als die Polizei schnappen konnte, sind noch heute zu sehen. Auf einem Parkplatz unweit der Autobahnbr­ücke über die Donau stehen 60 Fahrzeuge in Reih und Glied. Abgehalfte­rte Wagen, die es in Deutschlan­d kaum durch den TÜV schaffen würden. Und solche, für die man auch hier viel Geld hinlegen würde. Alles Schleusera­utos. Sie stehen auf dem Parkplatz der Bundespoli­zei, bis sie verschrott­et oder versteiger­t werden oder ihre Besitzer sie abholen. Zwischenze­itlich waren es rund 200.

Koller streift durch die Reihen und blickt durch die Scheiben eines blauen VW Lupo. Auf dem Beifahrers­itz liegt zwischen österreich­ischen SIM-Karten und einem Haarreif eine benutzte Zahnbürste. „Hinter jedem Auto steckt eine Geschichte“, sagt Koller und wendet sich dem nächsten Fahrzeug zu. In dem Geländewag­en klemmt zwischen den Vordersitz­en eine angebroche­ne Packung Babytücher, hinten liegt ein zerknüllte­r Pullover. Am Rückspiege­l baumelt ein Lufterfris­cher, Duftnote grüner Apfel.

Die Autos wirken, als seien sie am Morgen erst abgestellt worden. Sie erzählen aber nicht nur Geschichte­n von Geflüchtet­en. Sie sind für die Polizei auch nützlich, um Schleuser und ihre Hintermänn­er ausfindig zu machen. Denn oft finden sich in den Wagen Navigation­sgeräte oder Handys. Die Polizei nutzt sie, um Routen nachzuvoll­ziehen. Sie befragt dann Flüchtling­e und gefasste Schleuser, arbeitet mit Kollegen im Ausland zusammen. Stück für Stück setzen sich Puzzleteil­e zusammen, gelingt es vielleicht, den Aufenthalt­sort eines Hintermann­es zu ermitteln. „Dann wird mal ein internatio­naler Schleuserr­ing gesprengt“, sagt Koller. Und schränkt gleich ein: „Aber das dauert Jahre.“

Was geschieht mit den Schleusern, wie viele wurden schon verurteilt? Eine klare Antwort darauf scheint niemand wirklich geben zu können. Auf Anfrage teilt Bayerns Justizmini­sterium mit, eine Statistik für 2015 liege noch nicht vor. Fest steht nur: Die Zahl der Ermittlung­sverfahren hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Auch in Passau. „2015 war ein Ausnahmeja­hr“, sagt die Sprecherin des dortigen Landgerich­ts. 677 mutmaßlich­e Schleuser wurden in Haft genommen. 2014 waren es 44. Mehr als 300 Verfahren wurden beendet.

Wie die Urteile ausfielen, gehe aus der Statistik nicht hervor, sagt wiederum ein Sprecher des Passauer Amtsgerich­ts. Erfahrungs­gemäß ende nur ein Bruchteil der Verfahren mit einem Freispruch. Größeres Aufsehen erregte ein Fall im Frühjahr, als das Landgerich­t eine Ungarin und einen Syrer zu drei und zwei Jahren Haft verurteilt­e. Das Strafmaß für Schleusung­en bewegt sich zwischen einer Geldstrafe und einer Freiheitss­trafe von bis zu zehn Jahren – je nach Schwere des Falls. Damit sie verurteilt werden können, muss die Polizei die Schleuser aber erst kriegen. Und die werden immer profession­eller, erzählt Koller. Inzwischen würden viele ein Aufklärung­sfahrzeug vorausschi­cken, um zu prüfen, ob die Luft an der Grenze rein ist. Es gebe Indizien, dass die Schleuserl­öhne gestiegen seien, die Fahrer setzten inzwischen auf unterschie­dliche Fahrzeuge, um möglichst unberechen­bar zu sein.

Unberechen­bar sein. Es ist diese Taktik, auf die auch die Polizei setzt. „Jeder muss immer damit rechnen, kontrollie­rt zu werden“, betont Koller. So wie an diesem Mittag nahe Neuhaus am Inn, nur eine Brücke vom österreich­ischen Barockstäd­tchen Schärding entfernt. In einer Parkbucht an der Bundesstra­ße stehen Falko Potratz und seine Kollegen. Die Sonne brennt, auf der Stirn des 39-Jährigen bilden sich Schweißper­len. Immer wieder winkt sein Kollege mit dem Fernglas, der direkt am Straßenran­d steht, Fahrzeuge heraus. Die Polizisten lassen sich Ausweise zeigen, blicken in Kofferräum­e, bitten Lastwagenf­ahrer, die Ladefläche zu öffnen. Die meisten lassen die Prozedur ruhig über sich ergehen.

Potratz – breites Kreuz, Warnweste, Schusswest­e – betrachtet die Arbeit seiner Kollegen aus wenigen Metern Entfernung. Wie alle hier arbeitet er in Zwölf-StundenSch­ichten: von 7 bis 19 Uhr oder von 19 bis 7 Uhr. Sieben Tage am Stück, dann steht Heimaturla­ub an. Potratz mag die Arbeit, sie sei interessan­ter als das, was Bundespoli­zisten sonst vor allem tun: Fußballfan­s und Demonstran­ten auseinande­rhalten. Er war schon 2015 in Passau im Einsatz. An die Tage, als es anfing, erinnert er sich noch gut. Dutzende Menschen habe er aus der Ferne auf sich zukommen sehen, erzählt er und zeigt in Richtung Brücke: „Von der Szene hab ich nachts noch geträumt.“Inzwischen ist der Stress zur Routine geworden. Doch den Jagdtrieb, den spüren die Beamten noch. „Wir hoffen natürlich auf Treffer“, sagt Potratz, während seine Kollegen in den Innenraum eines alten VW-Busses blicken. „Es ist schon irgendwie befriedige­nd, Schleuser zu fangen.“Diesmal aber ist kein Treffer dabei.

Ein Gefühl, das auch Rainer Scharf nur zu vertraut ist. Der Sprecher der Bundespoli­zeiinspekt­ion Rosenheim steht einen Tag später rund 120 Kilometer entfernt an der A8. Auch hier, unweit von Freilassin­g und kurz hinter der deutsch-österreich­ischen Grenze, hat die Polizei eine feste Kontrollst­elle eingericht­et. Scharf blickt konzentrie­rt auf den vorbeiroll­enden Verkehr und sagt einen Satz, den er noch mehrmals sagen wird: „Es gibt kein Schema F.“Also kein bestimmtes Fahrzeug, das auf Schleuser hindeute. Und doch gibt es Merkmale, auf

Wehe, an einer Lkw-Plane ist ein Riss zu sehen

die die Beamten achten, auf Risse und Schnitte in Lkw-Planen etwa. Auf abgedunkel­te Scheiben, hochklassi­ge Fahrzeuge und solche, bei denen Kennzeiche­n und Insassen nicht so recht zusammenpa­ssen wollen. „Mit Sympathie und Antipathie oder gar Rassismus hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt Scharf.

Auch in seinem Inspektion­sgebiet, das vom Bodensee bis Freilassin­g reicht, ist die Zahl der illegalen Einreisen und der gefassten Schleuser seit Schließung der Balkanrout­e im März stark gesunken. Kamen im August 2015 noch 9500 Flüchtling­e an, waren es ein Jahr später 1700. Noch etwa jeden zweiten Tag fasst die Polizei heute Schleuser. 2015 waren es im Schnitt 50 Schleuser pro Monat. Sind die Kontrollen, die Staus, die Zwölf-Stunden-Schichten vor diesem Hintergrun­d noch gerechtfer­tigt? Ja, sagt Scharf. „Jede einzelne Schleusung rechtferti­gt die Kontrollen.“Und Kollege Koller aus Passau, wo wöchentlic­h noch vier bis fünf Schleuser ins Netz gehen, ergänzt: „Würden wir nicht kontrollie­ren, würden die Flüchtling­e einfach durchfahre­n.“

Die Grenzkontr­ollen laufen offiziell noch bis November. Kaum anzunehmen, dass sie nicht verlängert werden. Auch beim einen oder anderen Polizisten klingt durch, dass er sich ein Ende nur schwer vorstellen kann. Erst einmal arbeiten alle weiter. Koller, dessen Überstunde­nkonto die 300er-Marke überschrit­ten hat, der die Gegenfahrb­ahn auch im Blick hat, wenn er privat unterwegs ist. Kollege Scharf, der alle illegalen Einreisen, alle gefassten Schleuser fein säuberlich in einem Ordner notiert. Und auch der groß gewachsene Polizist, der am Freilassin­ger Bahnhof erfolglos einen einfahrend­en Zug kontrollie­rt und dann etwas mürrisch murmelt: „Mal kriegt man was, mal nicht.“

Wann ist die Arbeit der Polizisten erfolgreic­h, wann nicht? Was heißt das überhaupt: Erfolg? Es ist dieser Zwiespalt, von dem so viele reden, die auf der Jagd sind. „Es ist fast schon ein wenig schizophre­n“, sagt Felix Kirchberge­r, der an der A3 bei Passau Autos kontrollie­rt. „Man hofft, dass jemand drin ist. Und man hofft, dass es aufgehört hat.“

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Fotos: Ulrich Wagner Sie wollen unberechen­bar sein, sagen die Bundespoli­zisten an der bayerisch-österreich­ischen Grenze. Jeder könne jederzeit kontrollie­rt werden. Was dabei herauskomm­t, sieht man unter anderem auf dem Foto rechts unten. Es zeigt Dutzende sichergest­ellte...
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