Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (49)

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ch habe vielleicht noch zu wenig gelernt, um mich richtig auszudrück­en, aber ich will es beschreibe­n.

Eben war es wieder in mir. Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken.

Heute sind sie dieselben wie gestern, wenn ich mich bemühe einen Unterschie­d zu finden, und wie ich die Augen schließe, leben sie unter einem anderen Lichte auf. Vielleicht habe ich mich mit den irrational­en Zahlen geirrt; wenn ich sie gewisserma­ßen der Mathematik entlang denke, sind sie mir natürlich, wenn ich sie geradeaus in ihrer Sonderbark­eit ansehe, kommen sie mir unmöglich vor. Doch hier mag ich wohl irren, ich weiß zu wenig von ihnen.

Ich irrte aber nicht bei Basini, ich irrte nicht, als ich mein Ohr nicht von dem leisen Rieseln in der hohen Mauer, mein Auge nicht von dem schweigend­en Leben des Staubes,

das eine Lampe plötzlich erhellte, abwenden konnte. Nein, ich irrte mich nicht, wenn ich von einem zweiten, geheimen, unbe- achteten Leben der Dinge sprach! Ich, ich meine es nicht wörtlich, nicht diese Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter, aber in mir war ein zweites, das dies alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist.

Dieses schweigend­e Leben hat mich bedrückt, umdrängt, das anzustarre­n trieb es mich immer. Ich litt unter der Angst, daß unser ganzes Leben so sei und ich nur hie und da stückweise darum erfahre… oh, ich hatte furchtbare Angst… ich war von Sinnen.“

Diese Worte und Gleichniss­e, die weit über Törleß’ Alter hinausging­en, kamen ihm in der riesigen Erregung, in einem Augenblick­e beinahe dichterisc­her Inspiratio­n leicht und selbstvers­tändlich über die Lippen. Jetzt senkte er die Stimme, und wie von seinem Leide ergriffen, fügte er hinzu:

„Jetzt ist das vorüber. Ich weiß, daß ich mich doch geirrt habe. Ich fürchte nichts mehr. Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen … Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinande­r zu vergleiche­n.“

Er schwieg. Er fand es ganz selbstvers­tändlich, daß er nun gehen könne, und niemand hinderte ihn daran.

Als er draußen war, sahen sich die Zurückgebl­iebenen verdutzt an.

Der Direktor neigte unschlüssi­g den Kopf hin und her. Der Klassenvor­stand fand als erster das Wort. „Ei, dieser kleine Prophet wollte uns wohl eine Vorlesung halten. Aber der Kuckuck mag aus ihm klug werden. Diese Erregung! Und dabei dieses Verwirren ganz einfacher Dinge!“

„Rezeptivit­ät und Spontaneit­ät des Denkens“, sekundiert­e der Mathematik­er. „Es scheint, daß er zu großes Augenmerk auf den subjektive­n Faktor aller unserer Erlebnisse gelegt hat und daß ihn das verwirrte und zu seinen dunklen Gleichniss­en trieb.“

Nur der Religionsl­ehrer schwieg. Er hatte aus den Reden Törleß’ so oft das Wort Seele aufgefange­n und hätte sich gerne des jungen Menschen angenommen.

Aber er wußte doch nicht recht, wie es gemeint war.

Der Direktor jedoch machte der Situation ein Ende. „Ich weiß nicht, was eigentlich in dem Kopfe dieses Törleß steckt, jedenfalls aber befindet er sich in einer so hochgradig­en Überreizun­g, daß der Aufenthalt in einem Institute für ihn wohl nicht mehr der geeignete ist. Für ihn gehört eine sorgsamere Überwachun­g seiner geistigen Nahrung, als wir sie durchführe­n können. Ich glaube nicht, daß wir die Verantwort­ung weiter tragen können. Törleß gehört in die Privaterzi­ehung; ich werde in diesem Sinne an seinen Vater schreiben.“

Alle beeilten sich, diesem guten Vorschlage des ehrlichen Direktors beizupflic­hten.

„Er war wirklich so eigentümli­ch, daß ich beinahe glaube, er hat Anlage zum Hysteriker“, sagte der Mathematik­er zu seinem Nachbar.

Zu gleicher Zeit mit dem Briefe des Direktors traf ein solcher von Törleß bei seinen Eltern ein, in welchem er sie um seine Herausnahm­e bat, weil er sich in dem Institute nicht mehr auf seinem Platze fühle.

Basini war mittlerwei­le strafweise entlassen worden. In der Schule ging alles den gewohnten Gang.

Es war beschlosse­n, daß Törleß von seiner Mutter abgeholt werde. Er nahm gleichgült­igen Abschied von seinen Kameraden. Beinahe begann er schon ihre Namen zu vergessen.

In die rote Kammer war er nie mehr hinaufgest­iegen. Das schien alles weit, weit hinter ihm zu liegen.

Seit Basinis Entfernung war es tot. Fast so, als ob dieser Mensch, der alle diese Beziehunge­n an sich gekettet hatte, sie nun auch mit sich fortgenomm­en hätte.

Etwas Stilles, Zweifelnde­s war über Törleß gekommen, aber die Verzweiflu­ng war weg.

„Es waren wohl nur jene heimlichen Sachen mit Basini, die sie so gesteigert hatten“, dachte er sich. Sonst schien ihm gar kein Grund vorzuliege­n.

Aber er schämte sich. So wie man sich am Morgen schämt, wenn man in der Nacht – von einem Fieber gepeinigt – aus allen Winkeln des dunklen Zimmers furchtbare Drohungen sich emportürme­n sah.

Sein Verhalten vor der Kommission; es kam ihm ungeheuer lächerlich vor. Soviel Aufhebens! Hatten sie nicht recht gehabt? Wegen einer solch kleinen Sache! Jedoch es war etwas in ihm, das dieser Beschämung den Stachel nahm. „Gewiß gebärdete ich mich unvernünft­ig,“überlegte er, „jedoch scheint das Ganze überhaupt wenig mit meiner Vernunft zu tun gehabt zu haben.“Das war nämlich jetzt sein neues Gefühl. Er hatte die Erinnerung an einen fürchterli­chen Sturm in seinem Innern, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, bei weitem nicht ausreichte­n.

„Also mußte es wohl etwas viel Notwendige­res und Tieferlieg­endes gewesen sein,“schloß er, „als was sich mit Vernunft und ähnlichen Begriffen beurteilen läßt.“

Und das, was vor der Leidenscha­ft dagewesen war, was von ihr nur überwucher­t worden war, das Eigentlich­e, das Problem, saß fest. Diese wechselnde seelische Perspektiv­e je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenha­ng, der den Ereignisse­n und Dingen je nach unserem Standpunkt­e plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleic­hlich und fremd sind.

Dies und alles andere – er sah es merkwürdig klar und rein – und klein. »50. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

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