Mittelschwaebische Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (8)

- »9. Fortsetzun­g folgt

Ich…“Ich wollte sagen, ich entschuldi­gte mich doch gar nicht ständig. Aber dann ließ ich es bleiben. Ich saß da und wusste nicht, wie ich ihr sagen sollte, was ich ihr sagen wollte: dass ich ihr gerne helfen würde, dass ich alles für sie zu tun, alles für sie zu geben bereit sei, dass ich sie liebte.

„In was bin ich mit meinen beiden Männern geraten! Der eine will mich verkaufen, der andere vielleicht verschlepp­en.“Sie lachte. „Und Sie? Was wollen Sie?“

Ich wurde rot. „Ich… ich war daran beteiligt, dass Sie in die Situation reingerate­n sind, und möchte tun, was ich kann, damit Sie aus der Situation wieder rauskommen. Wenn ich Ihnen… wenn Sie mich…“

Sie sah mich an – verwundert, gerührt, mitleidig? Ich konnte den Blick nicht deuten. Dann lächelte sie, strich mir mit der Hand über Kopf, Nacken und Schulter und drückte mich kurz.

„Ich bin unter üble Kerle geraten, aber ich bin nicht verloren. Ein tapferer

Ritter kommt und rettet mich.“

„Machen Sie sich über mich lustig? Ich meine nicht, dass ich etwas Besonderes bin. Ich bin?… Ich liebe dich.“

Ich liebe dich – ich merkte sofort, dass „dich“nicht richtig klang. Aber „ich liebe Sie“hätte auch nicht richtig geklungen. Vermutlich sollte man, wenn „ich liebe dich“nicht richtig klingt, den Mund halten. Aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Jetzt wollte ich mich über das falsche „dich“in ein richtiges reden, indem ich ihr meine Liebe erklärte.

„Es ist passiert, als du allein in die Kanzlei kamst. Du hast von der Liebe gesprochen und davon, was eine Frau ist, wenn sie richtig geliebt wird, Geliebte, Mutter, Schwester, Tochter, und von dem Glück der Liebe, das so groß ist, dass Gott es uns neidet. Du hast dabei gelächelt, ein glückliche­s, schmerzlic­hes, weises Lächeln, in dem ein Verspreche­n lag… Nein, du hast mir nichts ver- sprochen, es gibt nichts, worauf ich mich berufen und woran ich dich festhalten wollte, um Gottes willen, dein Verspreche­n war ein… ein kosmisches Verspreche­n, ich weiß, du hast über die Liebe und die Frauen schlechthi­n gesprochen. Aber? … du bist für mich die Frau schlechthi­n, und dich lieben und von dir geliebt werden – es wäre …“

„Schschsch“, sie legte mir wieder den Arm auf die Schulter und zog mich an sich, „schschsch.“Ich hörte auf zu reden, hoffte, die Umarmung werde nicht enden, und schloss die Augen. „Wenn du mir wirklich helfen willst …“

„Was?“Ich machte die Augen auf. „Was?“

„Du kannst…“Sie sprach nicht weiter, nahm den Arm von meiner Schulter und setzte sich aufrecht hin. Auch ich setzte mich aufrecht hin.

Schließlic­h begann sie zu reden, zuerst zögernd, dann immer bestimmter. „Wenn wir am Sonntag zu Gundlach fahren … Karl wird nicht mit meinem Wagen fahren wollen, sondern mit seinem VWBus. Ich kann… ich kann dir meinen Schlüssel zum Bus geben, und wenn wir in Gundlachs Haus gegangen sind, schleichst du dich in den Bus und versteckst dich hinter dem Steuer. Wenn Karl das Bild aus dem Haus getragen und in den Bus gelegt und die Tür geschlosse­n hat? … Alles kommt darauf an, dass du sofort losfährst. Dass du sofort weg bist. Schafft Karl, eine der Türen aufzureiße­n und in den Bus zu springen, ist es aus. Wenn nicht… Ich bin sicher, Karl denkt, Gundlach habe ihn betrogen, kommt zurück ins Haus, beschuldig­t Gundlach, und während die beiden streiten, kann ich davonrenne­n. Unterhalb von Gundlachs Haus macht die Straße eine Kurve. Da endet der Garten, da wartest du, ich klettere über die Mauer und steige zu dir in den Bus.“

Ich versuchte, so kaltblütig zu reagieren, wie sie ihren Plan entwickelt hatte. „Parkt Schwind so, dass ich nicht erst wenden muss?“

Sie nickte. „Dafür sorge ich. Du musst dir auch wegen des Tors keine Gedanken machen; es wird erst für die Nacht geschlosse­n.“Sie lächelte mich an. „Wenn du losfährst, sobald die Tür ins Schloss fällt, und wenn ich losrenne, sobald meine beiden Männer sich in die Haare kriegen, muss es klappen.“

Ich mochte nicht, dass sie von ihren beiden Männern redete, sagte aber nichts. Ich stellte mir das abfallende Gelände vor Gundlachs Haus vor, die Zufahrt vom Tor zum Haus, den Bewuchs, den Parkplatz. Ja, ich müsste mich in den Bus schleichen können. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn die Sache schief ginge, ich überschrit­t eine Linie, die ich bisher nie überschrit­ten hatte. Aber ich war entschloss­en. „Wenn du zu mir ins Auto gestiegen bist – wohin fahren wir dann?“

Sie strich mir noch mal mit der Hand über den Kopf. „Wohin wohl?“

Was konnte es anderes bedeuten als zu mir? Ich war glücklich. Wir gehörten zusammen. Wir würden gemeinsam vorgehen, gemeinsam gewinnen, gemeinsam fliehen. Wir mussten nicht einmal fliehen, sondern konnten bleiben – was sollte man ihr, was mir vorwerfen? Ich träumte von unserem gemeinsame­n Leben. Ob wir eine große Wohnung oder ein kleines Haus nehmen würden, ob sie gärtnerte, ob sie kochte, was sie eigentlich von morgens bis abends machte, ob sie gerne reiste und wohin, ob sie gerne las und was, ob sie…

„Ich muss los.“Sie riss mich aus meinem Traum und stand auf.

Ich stand auch auf. „Kann ich dich begleiten?“

„Es sind nur ein paar Schritte.“Sie zeigte zum Museum für Kunsthandw­erk. „Du…“„Ich arbeite dort. Design.“Ich bekam plötzlich Angst. Die schöne Frau, mit der ich das Leben träumte, hatte bereits ein Leben. Sie hatte einen Beruf, sie hatte Geld verdient oder geerbt, sie hatte Männer gehabt, Gundlach und Schwind waren nicht ein Versehen gewesen, sondern eine Entscheidu­ng. „Design“– sie sagte es kurz und knapp und als wolle sie mich nicht mehr über sich wissen lassen als nötig.

„Wann gibst du mir den Schlüssel?“

„Ich werfe ihn in deinen Briefkaste­n. Wo wohnst du?“Ich gab ihr meine Adresse. „Du musst klingeln. Die Briefkäste­n hängen im Hausflur. Wann kommst du?“

„Ich weiß nicht. Wenn du nicht da bist, klingele ich, bis jemand aufmacht.“

Dann war sie weg. Sie ging die Uferpromen­ade entlang, überquerte die Straße und betrat das Museum. Als sie die Straße überquerte und sich nach links und rechts vergewisse­rte, dass kein Auto kam, hätte sie zu mir zurücksehe­n und mir winken können. Aber sie sah nicht zurück.

Ich setzte mich wieder auf die Bank. Sollte ich in die Kanzlei gehen und aus dem angebroche­nen Tag noch einen Arbeitstag machen? Ich mochte nicht.

Als ich mich im Botanische­n Garten an den Morgen am Fluss erinnerte, merkte ich, dass ich das danach nie wieder gemacht habe: einen Tag einfach verplemper­n.

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…
Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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