Mittelschwaebische Nachrichten

Schlaflos in Kreuzberg

Nach einem beispiello­sen, mehr als 24-stündigen Verhandlun­gsmarathon werden sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD doch noch einig. Von Currywurst, schwarz-roten Skatrunden und eingeschla­genen Autoscheib­en

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin „Kreuzberge­r Nächte sind lang“sangen schon vor 40 Jahren die Gebrüder Blattschus­s. Doch diese ganz spezielle Nacht hat Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), SPD-Chef Martin Schulz und den CSU-Vorsitzend­en Horst Seehofer sichtlich an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Als sie am Morgen in der SPD-Zentrale im Berliner SzeneStadt­teil die Ergebnisse ihres mehr als 24-stündigen Verhandlun­gsmarathon­s vorstellen, wirken sie blass und erschöpft. Aber auch mächtig erleichter­t. Schließlic­h haben sie gerade die nächste, vielleicht entscheide­nde Hürde auf dem noch langen Weg zu einer Neuauflage der Großen Koalition genommen.

Nach dem großen Finale der fünftägige­n Sondierung­en legt das Spitzentri­o ein Ergebnispa­pier vor, das nicht wie angekündig­t nur eine Handvoll Seiten umfasst, sondern 28. An drei weißen Stehpulten, die vor neutralem blauen Hintergrun­d aussehen wie umgedrehte Ausrufezei­chen, sprechen sie von „hervorrage­nden Ergebnisse­n“(Schulz), „sehr tief greifenden Sondierung­en“(Merkel) und einem Papier, „das sich in allen Punkten sehen lassen kann“(Seehofer). Dabei gab es eine beeindruck­end lange Reihe von Punkten, die höchst umstritten waren, um die zäh gefeilscht wurde – bis zuletzt. Ob bei den Themen Rente, Zuwanderun­g, Steuern oder Gesundheit – dass so viele Kompromiss­e gefunden würden, schien zwischenze­itlich fraglich. Angela Merkel räumt ein, dass sie 24 Stunden zuvor nicht sicher gewesen sei, ob eine Einigung gelingen könne.

Selbst die Bundeskanz­lerin, der nachgesagt wird, Marathon-Verhandlun­gen nicht zu scheuen, hat eine solche Nacht noch nie zuvor erlebt. Ihre jeweils 17-stündigen Gespräche zur Griechenla­nd-Rettung oder über eine Waffenruhe in der Ostukraine galten bislang als Rekord. Das Sondierung­sfinale in der Berliner SPD-Zentrale hat dagegen noch fast einen gewöhnlich­en Achtstunde­ntag länger gedauert. Manche Verhandlun­gsteilnehm­er haben das sogar noch einige Stunden länger nicht verlassen. Doch vor allem die drei Verhandlun­gsführer Merkel, Schulz und Seehofer können sich kaum eine Pause erlauben im finalen Ringen um ein tragfähige­s Regierungs­konzept. Ab Mitternach­t müssen sie die verbleiben­den Streitpunk­te im kleinen Kreis ausräumen.

Für die übrigen Sondierer heißt es in der Zwischenze­it: warten. Am Buffet ist besonders die Currywurst gefragt, in der Nacht der dicken Brocken wärmt deftige Gulaschsup­pe. Dazu kannenweis­e Kaffee zum Wachbleibe­n. „Keiner wollte sich die Blöße geben, als Erster vom Stuhl zu fallen“, sagt der stellvertr­etende Unionsfrak­tionschef Georg Nüßlein, der zum Thema Umwelt, Klima und Energie sondiert hat.

Die Nacht zieht sich, einige Politiker erholen sich beim Skat vom Koalitions­poker, SPD-Vize Ralf Stegner wird bei einer Runde mit Hessens Ministerpr­äsident Volker Bouffier und Innenminis­ter Thomas de Maizière gesehen. Immer wieder vertreten sich Politiker in der kalten Kreuzberge­r Nacht die Beine. Ursula von der Leyen (CDU), gehüllt in einen hellen Wollponcho, bricht gemeinsam mit Parteifreu­ndin Julia Klöckner (in Daunenjack­e) und CSU-Frau Dorothee Bär (in Pumps) zum gemeinsame­n Spaziergan­g auf. „Mal kurz mit dem Hund gehen“will Michael Groschek. Obwohl der nordrhein-westfälisc­he SPD-VorWilly-Brandt-Haus sitzende natürlich gar keinen dabei hat. Statt dessen passt eine Schar von Personensc­hützern auf die Polit-Prominenz auf. Denn in Kreuzberg schläft auch das Verbrechen nicht. So schlagen Unbekannte in unmittelba­rer Nähe zum streng bewachten Willy-Brandt-Haus die Scheiben von drei geparkten Autos ein. Aus dem Wagen eines Pressefoto­grafen wird die teure Ausrüstung gestohlen. Dass in Deutschlan­d 15 000 zusätzlich­e Polizisten eingestell­t werden sollen, darauf hatten sich die Sondierer aber schon Tage zuvor geeinigt.

Schwierige­r, so berichtet ein Teilnehmer, seien die Gespräche über die künftige Einwanderu­ngspolitik gelaufen. Hier habe vor allem die CSU darauf beharrt, nicht hinter die Vereinbaru­ngen zurückzufa­llen, die die Union in den gescheiter­ten Jamaika-Sondierung­en mit FDP und Grünen getroffen habe. „Es ist ein Papier des Gebens und Nehmens“, sagt Angela Merkel. Und Martin Schulz freut sich, dass das Sondierung­sergebnis einen „Aufbruch für Europa bedeute“.

Doch nur Minuten nach Bekanntwer­den des Sondierung­sergebniss­es wird deutlich, dass Teile der SPD mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind, eine Beteiligun­g an einer neuen Koalition unter Angela Merkel weiter für falsch halten. Und es Parteichef Martin Schulz übelnehmen, dass er von seiner Aussage, niemals in eine solche Koalition einzutrete­n, schrittwei­se abgerückt ist. JusoChef Kevin Kühnert jedenfalls kündigt an, bis zum Parteitag in Bonn

„Keiner wollte sich die Blöße geben, als Erster vom Stuhl zu fallen.“

Georg Nüßlein (CSU)

am 21. Januar alles zu unternehme­n, um die 600 Delegierte­n davon zu überzeugen, die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen abzulehnen. Andere, wie der SPD-Bundestags­abgeordnet­e Karl-Heinz Brunner, sehen dagegen in dem Papier eine „solide, saubere Grundlage für eine Regierung“. Die SPD habe der Union etwa mit der Solidarren­te und der Rückkehr zur paritätisc­hen Finanzieru­ng der Krankenver­sicherung Zugeständn­isse abgerungen, „die vor kurzem noch unerreichb­ar schienen“. In einer Vorstandss­itzung sprechen sich am Nachmittag die 40 anwesenden Mitglieder des Gremiums mit großer Mehrheit für die Aufnahme der Koalitions­verhandlun­gen aus – lediglich sechs stimmen dagegen.

Martin Schulz kündigt an, in den kommenden Tagen bei zahlreiche­n SPD-Veranstalt­ungen für RotSchwarz zu werben. Viel Zeit, sich von der schlaflose­n Kreuzberge­r Nacht zu erholen, bleibt ihm nicht.

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Nachtschic­ht fürPolitik­er undJournal­isten.Nach Dauerverha­ndlungen,die einige Beteiligte an die Schmerzgre­nze brachten,wur de die erste Hürde auf dem Weg zur Neuauflage der Großen Koalition genommen. Weitere folgen.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Nachtschic­ht fürPolitik­er undJournal­isten.Nach Dauerverha­ndlungen,die einige Beteiligte an die Schmerzgre­nze brachten,wur de die erste Hürde auf dem Weg zur Neuauflage der Großen Koalition genommen. Weitere folgen.

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