Mittelschwaebische Nachrichten

Der Opa, der mit dem Motorrad zum Vorlesen kommt

Wie der Landkreis und seine „Lesefreund­e“Kinder für Bücher begeistern

- VON JOSEF OSTERIED

Thannhause­n/Jettingen „Leseopa“Raimund Ditz betritt die Kindertage­sstätte St. Vinzenz in Thannhause­n und schon hat er zwei Kinder an seinen Händen. Sie strahlen übers ganze Gesicht, erzählen von eigenen Erlebnisse­n, fragen, ob er wieder mit dem Motorrad gekommen sei und welches Buch er ihnen heute vorlesen wird. Ditz, von Beruf Mineralölk­aufmann, ist ein rüstiger Rentner, der gerne mal zum Motorradfa­hren und Fischen nach Neuseeland fliegt, und sich, wenn er zu Hause ist, ehrenamtli­ch in St. Vinzenz einbringt. „Ich wollte mich sozial engagieren; außerdem, der Kontakt mit Kindern hält jung“, so Raimund Ditz’ Motivation, Kindern in kleinen Gruppen von vier oder fünf jeden Montag eine Stunde Bücher vorzulesen und mit ihnen über sie zu sprechen. „Manche Kinder passen sehr gut auf, andere weniger. Keiner will aber die Gruppe verlassen“, so Ditz.

„Bei wem wohnt noch eine Oma, ein Opa im Haus?“Diese Frage stellt Gabriele Schumertl-Fischer, Leiterin der Kindertage­seinrichtu­ng St. Vinzenz in Thannhause­n und bettet die Lesefreund­e, manche sagen Lesepaten oder Leseomas oder Leseopas, in ihr pädagogisc­hes Konzept ein. „Die Kinder profitiere­n von der Öffnung nach draußen, vom Bezug zu anderen Generation­en. Neben den Lesefreund­en sind das Firmlinge, Praktikant­en und Senioren im Stadlersti­ft und im Pfarrheim, denen die Kinder Lieder vorsingen. Es sind Polizei, Feuerwehr und die „Helfer auf vier Pfoten“, also Hunde.“

Die Leseomas und -opas seien eine konstante Gruppe, deren Mitglieder zwischen drei und zehn Jahren mitmachen, die für die Kinder Stabilität bedeuten, denn „die Paten wachsen in die Gruppe hinein, sie gehören dazu.“Es war der engagierte­n Leiterin wichtig, dass alle Lesepaten namentlich genannt und damit gewürdigt werden. Neben Raimund Ditz sind das Brunetta Drexel, Angelika Milhard, Hildegard Rettenmeie­r und Luise Andraschko, die zuvor 16 Jahre Köchin im Kindergart­en war.

Ortswechse­l. Kindertage­sstätte Johann Breher in Jettingen. Das gleiche Bild wie in St. Vinzenz in Thannhause­n: Zwei Lesefreund­innen, Erika Nickmann und Eva Seitz, betreten den Kindergart­en und haben sofort je zwei Kinder an den Händen.

Als die Kinder erfahren, dass die Lesestunde heute später stattfinde­t, weil erst ein Herr von der Zeitung und einer vom Landratsam­t mit den Vorleserin­nen reden werden, gibt ein Kind klar zu verstehen, was es von der Verschiebu­ng hält: „Die zwei sollen fortgehen! Wir wollen jetzt lesen!“Gibt es ein größeres Kompliment an die „Lesefreund­innen“?

Für Erika Nickmann, früher Grundschul­rektorin in Scheppach, wäre ein Leben ohne Kinder „ein zu radikaler Einschnitt“gewesen. Über das Lesen weiß sie als Lehrerin, „Man kann nicht früh genug anfangen.“Grundlage für das gemeinsame Lesen von Kinderbüch­ern sei das Vertrauens­verhältnis, das sich im Laufe der Zeit zwischen den Lesefreund­innen, meist Senioren, und den Kindern entwickle. Wenn das Vertrauen da sei, bleibe es für immer.

So erzählt Eva Seitz, eine weitere Lesefreund­in, wie sie etwa beim Einkaufen immer wieder von Kindern angesproch­en werde, die bereits groß sind. Sie ist ja schon neun Jahre im Kindergart­en tätig. Frau Seitz arbeitet als Beamtin im Landratsam­t Günzburg; sie schickte ihre beiden Kinder zum gleichen Kindergart­en, in dem sie jetzt vorliest. Ihre Kinder lasen gerne, sie selber las gerne. „Es macht Spaß!“

Brigitte Vogg, Leiterin der Kindertage­sstätte Johann Breher, steht mit Leib und Seele hinter ihren Lesefreund­en. „Die Lesefreund­e haben auch bei den Eltern eine hohe Akzeptanz, nicht nur bei den Kindern“, weiß sie. Schwierige Kinder gibt sie erfahrenen Lesefreund­innen. Eine halbe Stunde Lesen pro Woche würde den Kindern durchaus etwas bringen, emotional und intellektu­ell.

An ihrer Kita hätten zwölf Lesefreund­e je vier Kinder. Das Projekt läuft seit zehn Jahren und beglückt die Kinder und die Erwachsene­n. „Der Kontakt mit den Kindern gibt mir Auftrieb“, sagen manche allein stehenden Frauen, so die enthusiast­ische Leiterin.

„Katze, Katze, Katze; Blume, Blume, Blume“; überglückl­ich spricht ein syrisches Kind die für sie neuen Wörter nach. Andere Kinder gehen einen Schritt weiter; sie kennen zwar das Wort Blume, aber Rose, Tulpe, Nelke schon nicht mehr. Sie kennen den Baum und lernen im Gespräch über die Kinderbüch­er – oft sind sie richtige Kunstwerke – die einzelnen Baumarten kennen: Eiche, Buche, Fichte, Birke.

Meinrad Gackowski, Familienbe­auftragter des Landkreise­s, sieht in den Lesefreund­en ein Alleinstel­lungsmerkm­al der Familien- und Kinderregi­on Günzburg. „Ehrenamtli­che Lesefreund­innen und Lesefreund­e schauen mit Kindern Bilderbüch­er an, lesen Geschichte­n und sprechen mit ihnen darüber. Im Mittelpunk­t steht dabei nicht das Buch, sondern der Dialog, die aktive Einbeziehu­ng der Kinder und ihrer Gedanken sowie Erfahrunge­n. So werden in einer kleinen Gruppe sowohl die Sprache als auch die Persönlich­keit und die Fantasie der Kinder gleicherma­ßen gefördert“, sagt Gackowski.

Waren es 2006 fünf Kindertage­sstätten, die mit 15 Ehrenamtli­chen gestartet sind, sind es heute 30 Kitas mit 123 Lesefreund­en; 10 Prozent davon sind männlich. Männer haben einen Bonus bei Kindern ohne Väter und es gibt viele Kinder ohne Väter. Ob männlich oder weiblich, wer sich bei diesem großartige­n Projekt, großartig für Kinder, Lesefreund­e, Eltern, Kitas und später für die Schulen, so die Rektorin Erika Nickmann, wer sich hier einbringen will, kann sich an Meinrad Gackowski vom Landratsam­t wenden: E-Mail: familienbe­auftragter@landkreis-guenzburg.de oder Telefon: 08221/95-177.

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Fotos: Josef Osteried „Leseopa“Raimund Ditz begeistert seine Schützling­e für die Welt der Bücher. Gabriele Schumertl Fischer, die Leiterin der Kin dertagesst­ätte St. Vinzenz in Thannhause­n, öffnet die Welt für die Kinder.
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„Lesefreund­in“Eva Seitz im Kindergart­en in Jettingen.
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„Lesefreund­in“Erika Nickmann im Kindergart­en in Jettingen.

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