Mittelschwaebische Nachrichten
Der Opa, der mit dem Motorrad zum Vorlesen kommt
Wie der Landkreis und seine „Lesefreunde“Kinder für Bücher begeistern
Thannhausen/Jettingen „Leseopa“Raimund Ditz betritt die Kindertagesstätte St. Vinzenz in Thannhausen und schon hat er zwei Kinder an seinen Händen. Sie strahlen übers ganze Gesicht, erzählen von eigenen Erlebnissen, fragen, ob er wieder mit dem Motorrad gekommen sei und welches Buch er ihnen heute vorlesen wird. Ditz, von Beruf Mineralölkaufmann, ist ein rüstiger Rentner, der gerne mal zum Motorradfahren und Fischen nach Neuseeland fliegt, und sich, wenn er zu Hause ist, ehrenamtlich in St. Vinzenz einbringt. „Ich wollte mich sozial engagieren; außerdem, der Kontakt mit Kindern hält jung“, so Raimund Ditz’ Motivation, Kindern in kleinen Gruppen von vier oder fünf jeden Montag eine Stunde Bücher vorzulesen und mit ihnen über sie zu sprechen. „Manche Kinder passen sehr gut auf, andere weniger. Keiner will aber die Gruppe verlassen“, so Ditz.
„Bei wem wohnt noch eine Oma, ein Opa im Haus?“Diese Frage stellt Gabriele Schumertl-Fischer, Leiterin der Kindertageseinrichtung St. Vinzenz in Thannhausen und bettet die Lesefreunde, manche sagen Lesepaten oder Leseomas oder Leseopas, in ihr pädagogisches Konzept ein. „Die Kinder profitieren von der Öffnung nach draußen, vom Bezug zu anderen Generationen. Neben den Lesefreunden sind das Firmlinge, Praktikanten und Senioren im Stadlerstift und im Pfarrheim, denen die Kinder Lieder vorsingen. Es sind Polizei, Feuerwehr und die „Helfer auf vier Pfoten“, also Hunde.“
Die Leseomas und -opas seien eine konstante Gruppe, deren Mitglieder zwischen drei und zehn Jahren mitmachen, die für die Kinder Stabilität bedeuten, denn „die Paten wachsen in die Gruppe hinein, sie gehören dazu.“Es war der engagierten Leiterin wichtig, dass alle Lesepaten namentlich genannt und damit gewürdigt werden. Neben Raimund Ditz sind das Brunetta Drexel, Angelika Milhard, Hildegard Rettenmeier und Luise Andraschko, die zuvor 16 Jahre Köchin im Kindergarten war.
Ortswechsel. Kindertagesstätte Johann Breher in Jettingen. Das gleiche Bild wie in St. Vinzenz in Thannhausen: Zwei Lesefreundinnen, Erika Nickmann und Eva Seitz, betreten den Kindergarten und haben sofort je zwei Kinder an den Händen.
Als die Kinder erfahren, dass die Lesestunde heute später stattfindet, weil erst ein Herr von der Zeitung und einer vom Landratsamt mit den Vorleserinnen reden werden, gibt ein Kind klar zu verstehen, was es von der Verschiebung hält: „Die zwei sollen fortgehen! Wir wollen jetzt lesen!“Gibt es ein größeres Kompliment an die „Lesefreundinnen“?
Für Erika Nickmann, früher Grundschulrektorin in Scheppach, wäre ein Leben ohne Kinder „ein zu radikaler Einschnitt“gewesen. Über das Lesen weiß sie als Lehrerin, „Man kann nicht früh genug anfangen.“Grundlage für das gemeinsame Lesen von Kinderbüchern sei das Vertrauensverhältnis, das sich im Laufe der Zeit zwischen den Lesefreundinnen, meist Senioren, und den Kindern entwickle. Wenn das Vertrauen da sei, bleibe es für immer.
So erzählt Eva Seitz, eine weitere Lesefreundin, wie sie etwa beim Einkaufen immer wieder von Kindern angesprochen werde, die bereits groß sind. Sie ist ja schon neun Jahre im Kindergarten tätig. Frau Seitz arbeitet als Beamtin im Landratsamt Günzburg; sie schickte ihre beiden Kinder zum gleichen Kindergarten, in dem sie jetzt vorliest. Ihre Kinder lasen gerne, sie selber las gerne. „Es macht Spaß!“
Brigitte Vogg, Leiterin der Kindertagesstätte Johann Breher, steht mit Leib und Seele hinter ihren Lesefreunden. „Die Lesefreunde haben auch bei den Eltern eine hohe Akzeptanz, nicht nur bei den Kindern“, weiß sie. Schwierige Kinder gibt sie erfahrenen Lesefreundinnen. Eine halbe Stunde Lesen pro Woche würde den Kindern durchaus etwas bringen, emotional und intellektuell.
An ihrer Kita hätten zwölf Lesefreunde je vier Kinder. Das Projekt läuft seit zehn Jahren und beglückt die Kinder und die Erwachsenen. „Der Kontakt mit den Kindern gibt mir Auftrieb“, sagen manche allein stehenden Frauen, so die enthusiastische Leiterin.
„Katze, Katze, Katze; Blume, Blume, Blume“; überglücklich spricht ein syrisches Kind die für sie neuen Wörter nach. Andere Kinder gehen einen Schritt weiter; sie kennen zwar das Wort Blume, aber Rose, Tulpe, Nelke schon nicht mehr. Sie kennen den Baum und lernen im Gespräch über die Kinderbücher – oft sind sie richtige Kunstwerke – die einzelnen Baumarten kennen: Eiche, Buche, Fichte, Birke.
Meinrad Gackowski, Familienbeauftragter des Landkreises, sieht in den Lesefreunden ein Alleinstellungsmerkmal der Familien- und Kinderregion Günzburg. „Ehrenamtliche Lesefreundinnen und Lesefreunde schauen mit Kindern Bilderbücher an, lesen Geschichten und sprechen mit ihnen darüber. Im Mittelpunkt steht dabei nicht das Buch, sondern der Dialog, die aktive Einbeziehung der Kinder und ihrer Gedanken sowie Erfahrungen. So werden in einer kleinen Gruppe sowohl die Sprache als auch die Persönlichkeit und die Fantasie der Kinder gleichermaßen gefördert“, sagt Gackowski.
Waren es 2006 fünf Kindertagesstätten, die mit 15 Ehrenamtlichen gestartet sind, sind es heute 30 Kitas mit 123 Lesefreunden; 10 Prozent davon sind männlich. Männer haben einen Bonus bei Kindern ohne Väter und es gibt viele Kinder ohne Väter. Ob männlich oder weiblich, wer sich bei diesem großartigen Projekt, großartig für Kinder, Lesefreunde, Eltern, Kitas und später für die Schulen, so die Rektorin Erika Nickmann, wer sich hier einbringen will, kann sich an Meinrad Gackowski vom Landratsamt wenden: E-Mail: familienbeauftragter@landkreis-guenzburg.de oder Telefon: 08221/95-177.