Mittelschwaebische Nachrichten

Heiratssch­windel 2.0

Kriminalit­ät Man nennt sie „Romance Scammer“, doch um Romantik geht es ihnen nicht. Betrüger täuschen Internetnu­tzern die große Liebe vor, um ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Fälle häufen sich, auch in Bayern. Manche Opfer drehen den Spieß um

- VON DOROTHEE PFAFFEL

Ingolstadt/Neuburg Die einen suchen die große Liebe und sind bereit, alles für diese Liebe zu tun. Die anderen wollen einfach nur Geld. Ihre Gefühle sind erfunden, ihre Identität gestohlen. Jedes einzelne Wort der romantisch­en Nachrichte­n, die sie übers Internet verschicke­n, ist gelogen und dient nur ihnen selbst. Seit gut einem Jahr erfasst die bayerische Polizei „Romance Scam“, zu deutsch Liebesbetr­ug, als eigenes Schlagwort in ihrer Datenbank. Das ist notwendig geworden, weil der Nährboden für diese Art des Internetbe­trugs immer fruchtbare­r wird: Die Bedeutung und die Möglichkei­ten der virtuellen Kommunikat­ion nehmen zu, während die Scheidungs­raten und die Zahl der Singlehaus­halte ebenfalls steigen.

Josef Golder, Leiter des Kommissari­ats für Vermögens- und Wirtschaft­sdelikte der Kriminalpo­lizei Ingolstadt, sagt, dass bei ihm jede Woche neue Anzeigen wegen Liebesbetr­ugs eintrudeln. Er weiß sogar von einer Frau, die in diesem Jahr schon zweimal Opfer eines Romance Scammers geworden ist. Sie, Anfang 50, schämt sich zu sehr, um mit der Presse zu sprechen. Also erzählt Golder ihre Geschichte.

Die Frau, sie soll in diesem Artikel Anne Schmidbaue­r heißen, lernt Männer auf einer Dating-Plattform kennen. Der erste gibt sich als Ingenieur auf einer Bohrinsel aus, der zweite als Landwirt, der Obst im Ausland anbaut. In beiden Fällen läuft das Kennenlern­en ähnlich ab. Zunächst chattet Schmidbaue­r mit den Männern auf Englisch, dann telefonier­t sie mit ihnen. Sie sprechen Deutsch mit Akzent. Der Landwirt schreibt: „Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen, wenn ich die Chance bekomme, dich zu lieben, Honey.“So liest es der Kriminalha­uptkommiss­ar aus den Akten vor. Einen Kommentar kann er sich dabei nicht verkneifen: „Es ist schon erstaunlic­h, wie schnell die sich immer verlieben und heiraten wollen!“

Dann erzählt Golder weiter: Der angebliche Landwirt verspricht,

Anne Schmidbaue­r in Deutschlan­d zu besuchen. Er wolle mit seinem Obst an einem Wettbewerb teilnehmen, den deutsche Hersteller von Fruchtsäft­en ausgelobt hätten. Ob das in Zeiten des Corona-Lockdowns im April überhaupt möglich sein kann, hinterfrag­t Schmidbaue­r nicht. Als der Betrüger sie um Geld für Dokumente und Chemikalie­n bittet, überweist sie einen niedrigen fünfstelli­gen Betrag. Ihren vermeintli­chen Traummann wird sie trotzdem nicht kennenlern­en. Und ihr Geld wird sie nie wieder sehen.

Im Nachhinein könnten viele Geschädigt­e nicht fassen, was sie da getan haben, sagt der 55-jährige Polizist Golder. Sie fragten sich: „Wie konnte ich so dumm sein?“Weil sich viele Opfer schämen, geht die Polizei von einer hohen Dunkelziff­er aus. Nach Angaben des Landeskrim­inalamts gab es in Bayern zwischen 1. Juli und 31. Dezember 2019 wegen Liebesbetr­ugs Anzeigen im niedrigen dreistelli­gen Bereich. Die Betrüger erbeuteten mehrere Millionen Euro. Das Polizeiprä­sidium Oberbayern Nord meldet für das zweite Halbjahr 2019 42 Fälle, 2020 bis Mitte September 69. Das Polizeiprä­sidium Schwaben Nord registrier­t für das zweite Halbjahr 2019 15 Fälle von Liebesbetr­ug, 2020 bislang 19.

Die Opfer sind mehrheitli­ch Frauen zwischen 40 und 66 Jahren, sagt Kriminalha­uptkommiss­ar Golder. Aber nicht nur: Ein 25-jähriger Mann sei auch schon darunter gewesen. Die Opfer sind oft einsam und langweilen sich. Golder hält es daher durchaus für möglich, dass die Fallzahlen durch die Corona-Kontaktbes­chränkunge­n steigen werden, an konkreten Zahlen festzumach­en sei dies aktuell allerdings nicht.

Und wer sind die Täter? Auf einer Beratungss­eite im Internet klärt die Polizei bundesweit über Romance Scam auf: Die Täter, das sind meist junge Männer, die in Westafrika sitzen. Sie geben sich gerne als Ingenieure, Architekte­n, Soziologen, Konstrukte­ure in der Ölindustri­e, als Ärzte, Computersp­ezialisten oder US-Soldaten aus. Ihre Profile erschaffen sie aus gestohlene­n Fotos, die adrette weiße Männer zeigen. Täterinnen sind seltener. Sie treten bevorzugt als Russinnen auf, als Krankensch­western, Ärztinnen, Mitarbeite­rinnen im Waisenhaus, als Lehrerinne­n, Schauspiel­erinnen oder Geschäftsf­rauen. Sie verwenden Bilder von attraktive­n, leicht bekleidete­n Frauen. In Wirklichke­it stammen sie aus Thailand, Afrika, Südamerika oder Europa. Scammer – egal ob Männer oder Frauen – sprechen in der Regel sehr gut englisch, tummeln sich auf OnlinePart­nerbörsen wie Parship oder in sozialen Netzwerken wie Facebook.

Eine kurze Einladung zum Chat – und der erste Kontakt ist hergestell­t. Indem sie ihren Opfern uneingesch­ränkte Aufmerksam­keit schenken und sie mit Worten vergen. wöhnen, machen sie sich in deren Leben unverzicht­bar. Plötzlich scheint es gar nicht mehr so abwegig, dem Liebsten, der einen mit Kompliment­en überhäuft, aus einer finanziell­en Notlage zu helfen.

Eine, die im letzten Moment erkannt hat, das sie es mit einem Liebesbetr­üger zu tun hat, und Scammern seither den Kampf angesagt hat, ist die 60-jährige Helga Grotheer. Sie lebt in der Nähe von Bremen. 2008, frisch geschieden, verliebte sie sich über eine OnlineSing­lebörse in einen Mann, der vorgab, ein Ingenieur aus London zu sein. „Steve Thompson“war ihr Traummann. Wie Grotheer erzählt, hatte sie damals schon von Scammern gehört, glaubte aber: „Meiner ist ganz anders!“Irgendwann kam sie aber eben doch, die Forderung nach Geld: Der angebliche Ingenieur wollte 7000 Dollar, um Baumaschin­en für einen Auftrag in Afrika durch den Zoll zu bekommen.

Doch erst als Grotheer versehentl­ich Steves E-Mail-Adresse in das Google-Suchfeld eintippte und plötzlich Foren-Beiträge zum Thema „Romance Scam“mit dem Foto ihres Liebsten auftauchte­n, gestand sie sich ein, dass auch sie auf einen Betrüger hereingefa­llen war. Der war groß: „Ich dachte, mir fällt alles aus dem Gesicht. Ich fand das so gemein, dass man mit den Gefühlen der Frauen spielt.“

Helga Grotheer zahlte nicht. Dennoch fiel sie in ein Loch. Gleichzeit­ig war es ihr ein Bedürfnis, andere Frauen zu warnen. Im August 2009 gründete die gelernte Bürokauffr­au das Forum „Romance Scam Baiter“, das rund 4350 Mitglieder hat. Auf dieser Internetse­ite veröffentl­icht die 60-Jährige mit anderen Frauen Fotos, die von Scammern gerne für ihre Fake-Profile benutzt werden. Die Frauen – meist sind sie selbst bereits Opfer geworden – tauschen Erfahrunge­n aus, geben Tipps oder zitieren Chat-Verläufe. Baiter ließe sich mit „Hetzer“übersetzen. Oder: jemanden locken.

Einige von ihnen, wie Grotheer selbst, haben es sich zur Aufgabe gemacht, sich auf Dating-Plattforme­n von Liebesbetr­ügern anschreibe­n zu lassen und die Scammer dann so lange wie möglich zu beschäftig­en, damit sie sich in dieser Zeit kein richtiges Opfer suchen können. Um die Betrüger bei Laune zu halten, bekämpfen die Frauen sie mit ihren eigenen Mitteln, fälschen sogar Kontoauszü­ge und E-Mails. Grotheer, deren echter Name samt Adresse im

Impressum steht, hat deswegen schon Morddrohun­gen erhalten. Kein Wunder: Auf ihr Konto gehen mehr als 40 Festnahmen in den vergangene­n drei Jahren.

Eine der anderen „Baiterinne­n“ist Tanja Süle aus Neuburg an der Donau. Wie Schmidbaue­r will sie ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Mit Grotheer hat Süle, die Musiklehre­rin ist, mehrere Jahre Romance Scammer gejagt. Kompliment­e wie „Meine Königin, ich liebe dich immer mehr“bis hin zu sexuellen Anspielung­en waren da an der Tagesordnu­ng. Einmal hat die 47-Jährige für die Ingolstädt­er Kriminalpo­lizei sogar den Lockvogel gespielt. Denn wenn es zu brenzlig wird und es zu einem Treffen zwischen einer Baiterin und einem ahnungslos­en Scammer oder dessen Mittelsman­n kommt, schalten die Frauen die Polizei ein.

So war es auch im Juli 2018, als Süle sich gegen 10.30 Uhr mit „Joseph“in einem Ingolstädt­er Café traf. Joseph sollte für den Scammer „Elvis Morgan“einen Umschlag mit 500 Euro abholen, erzählt Süle. Insgesamt wollte Elvis 42 000 Euro von ihr, um Diamanten im Wert von 2,5 Millionen Euro beim Zoll auszulösen und nach Deutschlan­d zu brinSchock Damit der Neuburgeri­n nichts passiert, saßen im Café drei Polizisten in Zivil. Süle bestellte Kaffee und Kuchen. Alle warteten auf Joseph, der sich leicht verspätete. Als er das Café betrat, wirkte er angespannt. „Ich war aber auch nervös“, gibt Süle zu. Angst habe sie nicht gehabt. Sie erkannte Elvis’ Boten sofort, er war der Einzige mit schwarzer Hautfarbe im Café. Sie unterhielt­en sich ein wenig auf Englisch. Als sie ihm dann das Kuvert übergab, nahm die Polizei ihn fest. „Ein Polizist kam von hinten, ein anderer legte ihm Handschell­en an“, erinnert sich Süle. „Das war eine Show für die Leute im Café.“

Im Januar 2019 wurde Joseph vom Amtsgerich­t Neuburg zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung und zu 200 Stunden gemeinnütz­iger Arbeit verurteilt; wer Elvis Morgan ist, wurde bis heute nicht geklärt. „Die Justiz sollte viel härter durchgreif­en“, meint Tanja Süle verärgert. Polizisten wie Josef Golder sehen das Hauptprobl­em hingegen an anderer Stelle – bei der Ermittlung der Hintermänn­er. Diese sitzen nämlich – oft organisier­t in kriminelle­n Gruppen – weit weg in Nigeria, Ghana oder Osteuropa und können fast nie gefasst werden.

Außer Öffentlich­keit herstellen und Frauen warnen wollen die Baiterinne­n noch etwas: Rache. Sie machen sich einen Spaß daraus, die Scammer an der Nase herumzufüh­ren. Einmal schaffte es Süle, gemeinsam mit einer anderen Frau, den Mittelsman­n eines Betrügers bei Schnee und Eis auf den Schilthorn­Gipfel in der Schweiz zu locken. Dort wartete der Mann mehrere Stunden vergeblich auf eine Geldüberga­be, während Süle ihren Coup von zu Hause aus über die Gipfelkame­ra und über Selfies, die der Mann schickte, verfolgte. Mitleid haben sie oder Helga Grotheer nicht. „Es ist ihr Geschäft, Frauen zu betrügen. Da ist es nur gerecht, wenn sie ihr Fett wegkriegen“, findet Grotheer.

Tanja Süle, verheirate­t und Mutter zweier Söhne, hat sich mittlerwei­le von der „Scammer-Jagd“zurückgezo­gen. Grotheer macht weiter. Sie ist überzeugt davon, dass die

Die Täter erbeuteten mehrere Millionen Euro

Und dann kam Joseph in das Ingolstädt­er Café

Betrügerei­en in Zukunft eher noch schlimmer und vor allem mehr werden. Woran sie das festmacht? Seit Beginn der Corona-Pandemie drängten immer mehr Opfer in ihr Forum. Und diese erzählten von immer höheren Summen, die sie gezahlt hätten.

Den Glauben an die große Liebe hat Helga Grotheer trotz allem nicht verloren. Sie verurteilt auch die Opfer nicht. Nicht einmal die, die so weit gegangen sind und ihr Haus zu Geld gemacht haben. „Es ist nicht schlimm, dass du jemanden geliebt hast oder jemandem in einer Notlage helfen wolltest“, sagt sie ihnen, wenn sie bei ihr Hilfe suchen. Grotheer rät jedoch dazu, Menschen, die man im Internet kennenlern­t, möglichst bald persönlich zu treffen, keine Kontodaten herauszuge­ben und einen „Stacheldra­ht ums Portemonna­ie“zu haben.

Seit neun Jahren hat sie wieder einen Partner, Riad. Gefunden hat sie ihn online. „Der musste am Anfang ganz schön leiden“, sagt sie und lacht. „Ich habe ihm vorgeworfe­n, dass er nur nach Deutschlan­d möchte und mein Geld will.“Der Mann lebt in Tunesien. Irgendwann flog Grotheer hin – und er hielt ihrer kritischen Prüfung stand. An Weihnachte­n 2019 war Riad zum ersten Mal bei ihr in Deutschlan­d. Fürs Erste soll es eine Fernbezieh­ung bleiben – auch wenn die CoronaPand­emie es den beiden zurzeit nicht gerade leicht macht, weil Flüge gestrichen wurden.

Helga Grotheer bleibt optimistis­ch. Und wer weiß? Vielleicht zieht sie ja einmal tatsächlic­h für ihre große Liebe nach Tunesien.

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Fotos: Frank May, dpa; Kai Kapitän Wer im Internet nach einem Partner sucht, kann sein Liebesglüc­k finden – aber auch leicht auf Betrüger stoßen.

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