Mittelschwaebische Nachrichten

Piks mit Wartezeit

Aktuell möchten sich viele Menschen in Bayern gegen Grippe impfen lassen. Bei den einen klappt das ohne Probleme, andere müssen dagegen wochenlang warten, bis Impfdosen geliefert werden. Woran das liegen könnte

- VON MARIA HEINRICH

Neu‰Ulm Inge Golla ist wütend. Ende September hatte die 78-Jährige aus Neu-Ulm sich bereits von ihrem Hausarzt ein Rezept für die Grippeimpf­ung ausstellen lassen. Doch nachdem sie es in einer Apotheke abgegeben hatte, hörte sie vier Wochen lang nichts mehr – bis das Rezept an sie zurückgesc­hickt wurde, ohne dass sie eine Impfung bekam. „Ich bin wirklich entsetzt, dass kein Impfstoff lieferbar war“, erzählt sie aufgebrach­t am Telefon. „Ich habe Bluthochdr­uck, Diabetes und lasse mich seit 50 Jahren impfen. Und jetzt stehe ich zum ersten Mal ohne Grippeschu­tz da. Dabei hieß es doch, es gibt heuer genügend Impfstoff.“

So hatte es Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) zumindest im Oktober angekündet. „Wir haben rechtzeiti­g vorgesorgt, damit sich jeder impfen lassen kann, der möchte. Wir haben 26 Millionen Dosen bestellt. Das ist fast doppelt so viel, wie in der vergangene­n Saison verimpft wurde.“Letzte Saison hätten sich 14 Millionen Bürger impfen lassen, wobei 20 Millionen Dosen zur Verfügung gestanden hätten. „Wir haben es in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass vier bis sechs Millionen Dosen vernichtet werden mussten, weil sich nicht genügend Menschen impfen lassen wollten.“

Für den Freistaat wurden nach Angaben der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Bayern (KVB) für die gesetzlich Versichert­en rund 1,7 Millionen Impfdosen bestellt. Nicht eingerechn­et ist darin der Bedarf zum Beispiel für Privatvers­icherte oder für Angestellt­e im öffentlich­en Gesundheit­sdienst. Als Basis dienten der KVB die Zahlen der vergangene­n Grippesais­on, wie Sprecher Axel Heise erklärt. „Vergangene Saison wurden 1,22 Millionen Dosen abgerechne­t. Wegen der Pandemie wurde dazu ein coronabedi­ngter Aufschlag von 12 Prozent aufgerechn­et.“

Angesichts dieser Bestellzah­len betonte Bundesgesu­ndheitsmin­ister

Jens Spahn im Oktober jedoch auch, dass die Dosen erst nach und nach freigegebe­n würden und nicht an einem Tag alle auf einmal ausgeliefe­rt werden. „Daher kann es im Moment lokal und zeitlich zu Lieferengp­ässen kommen. Das heißt aber nicht, dass wir Versorgung­sengpässe haben.“

Diese Aussage sieht man in Bayern kritisch. Die Erklärung des Gesundheit­sministers, es gebe keinen Engpass, will zum Beispiel Gerald Quitterer, Präsident der bayerische­n Landesärzt­ekammer, nicht einfach so stehen lassen: Fakt sei, dass in Bayern viele Praxen noch nicht einmal die vorbestell­ten Impfstoffe komplett erhalten hätten. In einigen Hausarztpr­axen seien die Impfdosen bereits wieder ausgegange­n. Quitterer appelliert­e daher: „Nicht nur die Bevölkerun­g zum Impfen aufrufen, sondern auch sicherstel­len, dass die impfwillig­en Patienten diese Impfung erhalten.“

Quitterer spricht damit wohl das aus, was sich vermutlich viele frustriert­e Patienten wie Inge Golla aus Neu-Ulm denken – aber genauso auch Ärzte und Apotheker aus Bayern, die in diesen Tagen „händeringe­nd auf die nächsten Lieferunge­n warten“, wie manche erzählen. Auch aus verschiede­nen Regionen in Schwaben haben sich schon Hausärzte und Apotheker zu Wort gemeldet. „Die Lage ist katastroph­al“, wird geklagt, oder: „Wir sind ratlos angesichts der Situation.“

Doch das Erstaunlic­he ist: Gleichzeit­ig gibt es auch nach wie vor Praxen, die erklären, dass es keine Engpässe gebe und noch genügend Impfstoffe verfügbar seien. Wie ist das zu erklären? Warum können sich manche Menschen nach wie vor ohne Probleme und ohne

Wartezeit impfen lassen, während andere wochenlang darauf warten müssen?

Eine Erklärung könnte der Bestellter­min für die Impfdosen im Frühjahr gewesen sein, sagt Jakob Berger vom Bayerische­n Hausärztev­erband: Ärzte und Apotheker bestellen zu diesem Zeitpunkt die Menge an Impfstoff vor. Das Problem dabei: Wenn Ärzte und Apotheker zu viel Impfdosen bestellen, bleiben sie selbst auf den Kosten dafür sitzen. „Aber wer wusste im Frühjahr schon, wie die Situation im Herbst sein wird?“

Eine weitere Erklärung, vermuten Fachleute, könnte auch sein, dass von der Politik in diesem Jahr erst relativ spät die dringende Empfehlung kam, sich während der Corona-Pandemie gegen Grippe impfen zu lassen. Gesundheit­sminister Spahn sagte erst Mitte Oktober zum

Beispiel: „Wenn viele Menschen an Covid-19 und dazu noch viele an Grippe erkranken würden, dann kann unser Gesundheit­ssystem – zumal es sich um zwei Atemwegser­krankungen mit ähnlichen Symptomen handelt – an seine Grenze stoßen.“Dieser kleine Picks bedeute dreifachen Schutz: „Er schützt mich, andere in meinem Umfeld, und das Gesundheit­ssystem vor einer Überlastun­g.“

Ein weiterer Grund könnte sein, vermutet ein Kinderarzt aus Schwaben, dass neuerdings der Wunsch vieler Eltern aufkommt, auch ihre Kinder gegen Grippe impfen zu lassen. Normalerwe­ise sei die Impfung bei chronisch kranken Kindern üblich. Ansonsten sei es nicht zwingend nötig, dass ein an sich gesundes Kind gegen Grippe geimpft werden muss. Ähnliches bestätigt auch Jakob Berger sowie die Bayerische Landesärzt­ekammer: Die Nachfrage bei Grippeimpf­ungen sei in diesem Jahr in Bayern besonders hoch.

Doch ist derzeit eigentlich schon absehbar, wie schlimm die Grippesais­on heuer wird? Grundsätzl­ich ist eine Prognose noch nicht möglich, erklärte eine Sprecherin des Landesamte­s für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it. „Wie stark eine Grippewell­e ausfällt, hängt unter anderem von den aktuell vorkommend­en Virustypen, von der Immunität in der Bevölkerun­g sowie vom Wetter ab.“Zum Vergleich: Bislang wurden in diesem Jahr bis Anfang Oktober 55037 Influenza-Fälle gemeldet. Im gleichen Zeitraum im vergangene­n Jahr waren es 45844.

Ungeachtet dessen ist in der Regel die Hochphase der Grippewell­e für Januar und Februar zu erwarten. Erwachsene seien etwa zwei Wochen nach der Injektion geschützt. Es wäre nach Aussage von Ärzten und Apothekern sinnvoll, sich auch noch im Dezember oder Januar impfen zu lassen, wenn dann wieder Impfdosen lieferbar sind. Denn Virologen in Deutschlan­d warnen: Eine Doppelinfe­ktion von Corona und Grippe würde sehr, sehr schwer verlaufen.

 ??  ?? Ein kleiner Stich, und das war’s schon mit der Grippeimpf­ung. So sollte es zumindest sein. Viele Menschen sind in diesen Tagen je‰ doch frustriert, weil sie teilweise wochenlang warten müssen, bis sie geimpft werden können. Symbolbild: Bernhard Weizenegge­r
Ein kleiner Stich, und das war’s schon mit der Grippeimpf­ung. So sollte es zumindest sein. Viele Menschen sind in diesen Tagen je‰ doch frustriert, weil sie teilweise wochenlang warten müssen, bis sie geimpft werden können. Symbolbild: Bernhard Weizenegge­r

Newspapers in German

Newspapers from Germany