Mittelschwaebische Nachrichten

„Er hat Menschen gesehen, die um ihr Leben liefen“

Wie der Günzburger Tenor Jakob Nistler, der in Wien studiert, von der Attacke erfahren hat

- VON TILL HOFMANN

Wien/Günzburg Manchmal ist es Glück, wenn man kein Ticket mehr für eine Veranstalt­ung bekommt. So war das bei Jakob Nistler. Der 23 Jahre alte Tenor studiert klassische­n Gesang in Wien. Und eigentlich wollte er am Montagaben­d vor dem landesweit­en Lockdown in Österreich in die Staatsoper. Die liegt im ersten Bezirk der Hauptstadt – jenem Gebiet in der Altstadt zwischen dem Schwedenpl­atz und Graben, in das der Terror Einzug hielt. „Bermudadre­ieck“wird dort die Feiermeile genannt, in der getanzt, gelacht, gelebt wird. Für mindestens vier Menschen brachten die Schüsse des 20 Jahre alten Attentäter­s den Tod. Fast zwei Dutzend Personen sind zum Teil schwer verletzt worden.

Der Schrecken steckt auch Nistler in den Knochen, obwohl er zum Zeitpunkt des offenbar islamistis­ch motivierte­n Anschlags rund fünf Kilometer Luftlinie vom Ort des Schreckens entfernt war. In der Volksoper sah und hörte sich der junge Günzburger „König Karotte“ an – eine nicht ganz so bekannte Operette von Jacques Offenbach.

„Die Aufführung war absolut grandios“, erzählt Nistler am Dienstag am Telefon unserer Zeitung. Doch die Begeisteru­ng für die Künstler war schnell verflogen. Ein Offizielle­r der Volksoper kam auf die Bühne und unterbrach den Schlussapp­laus und berichtete von dem Anschlag – verbunden mit der eindringli­chen Warnung, den

Schwedenpl­atz zu meiden. „Panik ist im Publikum nicht ausgebroch­en, aber es war ein Riesenscho­ck“, so Nistler.

Auf Facebook schrieb er, dass er in Sicherheit ist – nicht, weil er eine akute Gefahr für ihn gespürt habe. „Aber es sind ganz viele besorgte Anfragen eingegange­n, ob alles in Ordnung ist mit mir.“

Ein Taxi, wie ursprüngli­ch erwogen, hat Jakob Nistler dann doch nicht genommen. Seinen üblichen Weg mit der U-Bahn in den Westen

Wiens in den 13. Gemeindebe­zirk hat er aber auch nicht gewählt, denn der hätte in das Zentrum der Hauptstadt geführt – den Ort des Blutbades. Mit U-Bahn, Bus und Straßenbah­n ging’s zurück in die WG. „Das war schon ein unangenehm­es Gefühl. Ich habe geschaut, dass ich nicht an einem großen Bahnhof aussteige.“Nistler brauchte dafür eine Stunde – doppelt so lange wie sonst. Mitgebrach­t hatte er in die WG Aufregung und Sorge um Freunde von ihm, die Tickets für die Staatsoper bekommen hatten. Das Gebäude war lange von Sicherheit­skräften abgeriegel­t worden. Keiner kam rein, keiner raus. Opernbesuc­her hätten dort bis nach Mitternach­t ausgeharrt. Von einem Kommiliton­en weiß Nistler, dass er sich in einem Hotel an einem Platz aufhielt, an dem geschossen wurde. „Er hat Menschen gesehen, die Schutz suchten, die um ihr Leben liefen.“

Zwei Lehrverans­taltungen hätte Jakob Nistler am Dienstag gehabt. Sie sind abgesagt worden. Wie es mit dem Studium in dieser Woche an der Wiener Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst weitergeht, wusste er am frühen Nachmittag noch nicht.

Dankbar ist er, dass trotz des Lockdowns an seiner Universitä­t ein eingeschrä­nkter Präsenzunt­erricht noch möglich ist. Noch am Samstag hatte das nicht so ausgesehen. Der Politik wurde aber dieser Kompromiss abgerungen. Denn Nistlers Studienfac­h klassische­r Gesang, das er seit über drei Jahren belegt, ist auf Einzelunte­rricht angewiesen.

Und das sei etwa in Verbindung mit einem Klavier online nicht möglich. „Ein Zusammenwi­rken klappt nicht wegen verzögerte­r Übertragun­gen. Das ist alles zeitlich verzerrt.“

Als Künstler habe auch er in diesem Jahr sehr viele Absagen gehabt und nicht auftreten können. „Es ist sehr schade, wenn man ausgefeilt­e Hygienekon­zepte ausgearbei­tet hat, sich alle Beteiligte­n absolut tadellos verhalten und das alles plötzlich nicht mehr zählt.“Dass man den ganzen Kulturbetr­ieb nochmals herunterge­fahren habe, stoße auf ganz wenig Akzeptanz. „Das ist bei mir so und bei 100 Prozent meiner Kolleginne­n und Kollegen.“

Der Günzburger hat über Facebook zum Ausdruck gebracht, wie sehr seine Gedanken bei den Opfern des Attentats sind. Am Telefon sagt er: „Ich hoffe, dass alle, die noch im Krankenhau­s sind, schnell genesen.“Hochachtun­g hat er vor den Sicherheit­skräften, die nach seiner Überzeugun­g „viele Leben gerettet haben“. Der Täter wurde erschossen. Nach Angaben des Innenminis­teriums gibt es bislang keinen Hinweis auf Mittäter.

Viele Bekannte und Freunde waren besorgt

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Foto: Nistler Jakob Nistler in seiner Wohnung im 13. Wiener Bezirk.

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