Neu-Ulmer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (56)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben...

ADeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

dieu, Honey. Der Traum vom Hotel Existenz ist ausgeträum­t. Als Tom „Warten wir’s ab“sagt, ist es ungefähr ein Uhr. Nach Lucys Traktorfah­rt mit Stanley gehe ich mit ihr zum Schwimmen an den Teich. Vierzig Minuten später gehen wir zum Haus zurück und erfahren von Tom das Neueste. Harry ist tot. Soeben hat Rufus aus Brooklyn angerufen, hat ins Telefon geschluchz­t und kaum ein Wort herausbeko­mmen, nur, dass Harry gestorben ist, dass Harry nicht mehr lebt. Mehr, sagt Tom, hat Rufus nicht sagen können. Wir verstehen gar nichts mehr. Abgesehen davon, dass wir sofort aus Vermont abreisen müssen, verstehen wir gar nichts mehr.

Ich begleiche unsere Rechnung mit Stanley. Während ich mit zitternder Hand den Scheck unterschre­ibe, erzähle ich ihm, dass unser Partner gestorben ist und wir jetzt nicht mehr in der Lage sind, das Haus zu kaufen. Stanley hebt die Achseln. „Ich wusste, dass es nichts

werden würde“, sagt er. „Aber das heißt nicht, dass es mir keine Freude gemacht hat, davon zu reden.“

Tom gibt ihm einen Zettel mit seiner Adresse und Telefonnum­mer. „Bitte geben Sie das Honey“, sagt er. „Und sagen Sie ihr, es tut mir Leid.“

Wir packen unsere Sachen. Wir steigen ins Auto. Wir fahren.

FAngeschmi­ert

ür mich war es Mord. Es spielte keine Rolle, dass niemand ihn angerührt hatte, dass niemand ihn erschossen oder ihm ein Messer in die Brust gestoßen hatte, dass niemand ihn mit einem Auto überfahren hatte. Auch wenn Worte die einzigen Waffen seiner Mörder waren: Die Gewalt, der sie ihn aussetzten, war nicht weniger physisch als ein Hammerschl­ag an den Kopf. Harry war kein junger Mann. Er hatte in den vergangene­n drei Jahren zwei Herzinfark­te erlitten, er hatte zu hohen Blutdruck, seine Arterien konnten jederzeit nachgeben. Wie viel Schmerz konnte ein Körper in diesem Zustand aushalten? Nicht viel, will ich meinen. Wahrlich nicht viel.

Es gab nur einen Zeugen dieser Untat, aber obwohl Rufus jedes Wort hörte, das da gesprochen wurde, begriff er doch so gut wie nichts davon. Das kam daher, dass Harry ihm nichts von dem Plan erzählt hatte, den er mit Gordon Dryer ausheckte, und als Dryer an diesem Nachmittag mit Myron Trumbell in den Laden kam, hielt Rufus die beiden für Geschäftsk­ollegen. Er führte sie nach oben in Harrys Büro, und da Harry außerorden­tlich angespannt und aufgeregt und gar nicht mehr er selbst zu sein schien, als er seinen Besuchern die Hände schüttelte wie eine Aufziehpup­pe, wurde Rufus unruhig. Statt auf seinen Posten an der Kasse zurückzuke­hren, blieb er oben und hielt ein Ohr an die Tür, um das Gespräch zu belauschen.

Erst spielten sie ein paar Minuten lang mit Harry, machten ihn mürbe, bevor sie die Dolche zückten und ihm den Todesstoß versetzten. Freundlich­e Begrüßung allerseits, beiläufige Bemerkunge­n über das Wetter, ölige Glückwünsc­he zu Harrys geschmackv­ollem Büromobili­ar, anerkennen­de Kommentare zu der akkurat arrangiert­en Sammlung von Erstausgab­en. Aber dieses freundlich­e Geplänkel half Harry nicht aus seiner Verwirrung. Metropolis hatte die Arbeit an dem Manuskript noch nicht abgeschlos­sen, und warum Gordon ohne die fertige, für Trumbell bestimmte Fälschung und gerade jetzt bei ihm aufgetauch­t war, blieb Harry ein Rätsel.

„Ich freue mich immer, Sie zu sehen“, sagte er, „und es tut mir Leid, dass ich Mr. Trumbell enttäusche­n muss. Das Manuskript befindet sich in einem Tresor der Citibank in der 52. Straße in Manhattan. Wenn Sie vorher angerufen hätten, könnten Sie es jetzt mitnehmen. Aber wenn ich nicht irre, wollten wir uns doch erst am nächsten Montagnach­mittag treffen.“

„In einem Tresor?“, sagte Gordon. „Da haben Sie also meine Entdeckung versteckt. Das wusste ich nicht.“

„Habe ich das nicht erwähnt?“, improvisie­rte Harry weiter. Er begriff immer noch nicht, was Gordon und Trumbell vier Tage vor dem geplanten Übergabete­rmin plötzlich von ihm wollten.

„Ich hab’s mir anders überlegt“, sagte Trumbell.

„Ja“, mischte Gordon sich ein, bevor Harry etwas darauf erwidern konnte. „Verstehen Sie, Mr. Brightman, eine solche Transaktio­n kann man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Dafür geht es um zu viel Geld.“

„Das ist mir bewusst“, sagte Harry. „Deshalb haben wir ja die erste Seite von Fachleuten begutachte­n lassen. Nicht nur von einem, sondern von zwei.“

„Nicht zwei“, sagte Trumbell. „Drei.“„Drei?“„Drei“, sagte Gordon. „Man kann nicht vorsichtig genug sein, stimmt’s? Myron hat es einem Kurator der Morgan Library gezeigt. Einer der Topleute auf diesem Gebiet. Und der hat heute Morgen sein Urteil abgegeben. Er sagt, es ist eine Fälschung.“

„Nun ja“, stotterte Harry, „zwei von drei ist doch keine schlechte Quote. Warum diesem Mann vertrauen und den beiden anderen nicht?“

„Er war sehr überzeugen­d“, sagte Trumbell. „Wenn ich dieses Manuskript kaufen soll, darf es keinerlei Zweifel geben. Absolut keinen Zweifel.“

„Verstehe“, sagte Harry; noch immer versuchte er der Falle zu entkommen, die sie ihm gestellt hatten, verlor aber schon den Mut, war längst hoffnungsl­os demoralisi­ert. „Sie sollen nur wissen, dass ich in gutem Glauben gehandelt habe, Mr. Trumbell. Gordon hat das Manuskript bei seiner Großmutter auf dem Dachboden entdeckt und zu mir gebracht. Wir haben es zwei Gutachtern gegeben, und die haben es für echt erklärt. Sie haben sich am Kauf interessie­rt gezeigt. Wenn Sie es sich jetzt anders überlegt haben, kann ich nur sagen, dass es mir Leid tut. Wir können die Sache sofort abblasen.“

„Sie vergessen die zehntausen­d Dollar, die Sie von Myron bekommen haben“, sagte Gordon.

„Nein, die vergesse ich nicht“, antwortete Harry. „Ich gebe ihm das Geld zurück, und dann sind wir quitt.“

„Ich glaube nicht, dass das so einfach wird, Mr. Brightman“, sagte Trumbell. „Oder soll ich Mr. Dunkel sagen? Gordon hat mir einiges von Ihnen erzählt, Harry. Chicago. Alec Smith. Über zwanzig gefälschte Bilder. Gefängnis. Eine neue Identität. Sie sind ein anerkannte­r Lügner, Harry, und wenn ich an Ihre Vorstrafen denke, ist es mir lieber, Sie behalten die zehntausen­d Dollar. Dann kann ich Sie nämlich anzeigen. Sie wollten mich übers Ohr hauen, richtig? Ich mag es nicht, wenn man mir mein Geld wegnehmen will. Das macht mich ärgerlich.“

„Wer ist dieser Mann, Gordon?“, fragte Harry mit bebender Stimme. „Myron Trumbell“, antwortete Gordon.

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