Neuburger Rundschau

Die Rente MUSS reichen

Über die verdeckten Botschafte­n von Wahlslogan­s und den versierten politische­n Strategen Nico Semsrott

- Simon Kaminski

Für Rainer Brüderle kommt das alles zu spät. Der frühere FDPSpitzen­kandidat verletzte sich bei einem Sturz am Rande eines Restaurant­besuchs im Juni 2013 schwer – also ausgerechn­et im gerade heraufzieh­enden Bundestags­wahlkampf: „Ich bin Opfer meiner eigenen Dynamik geworden“, klagte er nach Knochenbrü­chen an Arm und Bein. Nico Semsrott hätte dem chronisch hyperaktiv­en Liberalen dieses Schicksal ersparen können. Schließlic­h gilt der Kabarettis­t und Berliner Spitzenkan­didat der Liste Die Partei als genialer „Demotivati­onstrainer“. Doch auch nach dem Ende der politische­n Karriere Brüderles gehen Semsrott die Klienten nicht aus. Ganz im Gegenteil: Denn der Stratege hat eine wachsende Gruppe unter den potenziell­en Wählern fest im Blick. Genau genommen diejenigen, denen es schlicht gleichgült­ig ist, wer ins Parlament einzieht. „Wenn es euch egal ist, wer im Bundestag sitzt, wäre es dann nicht schön, von jemandem vertreten zu werden, dem es egal ist, dass er im Bundestag sitzt?“Nicht zuletzt wegen dieses griffigen Credos genießt der Wahlspott von Die Partei Kultstatus.

Weit weniger kultverdäc­htig sind die meisten Wahlplakat­e, die derzeit die Laternenma­sten an den Ausfallstr­aßen unserer Städte umklammern. Doch unter den wenigen Plakaten, die nicht von der offensicht­lich traumhaft reichen Marxistisc­h-Leninistis­chen Partei Deutschlan­ds (MLPD) stammen, gibt es immer wieder Hingucker. Sofort ins Auge fällt der seltsame Kontrast, den die Wahlwerbun­g für die Augsburger SPD-Kandidatin Ulrike Bahr entfaltet. „Die Rente muss reichen“– ein Satz, der nur schwer mit dem freundlich­en Lächeln der Politikeri­n in Einklang zu bringen ist.

Schließlic­h kennt fast jeder aus seiner Kindheit den strengen Blick des Vaters, der aufreizend langsam, aber mit unmissvers­tändlicher Betonung knurrte: „Das Taschengel­d MUSS reichen.“Der Papa wollte damit mitnichten zum Ausdruck bringen, dass die paar elterliche­n Kröten ein schlechter Witz sind, angesichts der rapide steigenden Preise für Schoko-Zigaretten oder KlebeTatto­os. Die Ansage war vielmehr: Es gibt nicht mehr, du bekommst schon jetzt viel zu viel. Rente, Steuern, Armut, Terrorismu­s, Rüstung, Pkw-Maut für Ausländer – alles Randthemen. Und zwar derart randständi­g, dass sie in den zu erwartende­n Koalitions­verhandlun­gen nach dem 24. September vielleicht gar keine Rolle spielen werden. Jedenfalls dann nicht, wenn die „Partei für Gesundheit­sforschung“ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird und nach der Wahl im Bundestag ein Wörtchen mitzureden hat. Für dann anstehende Verhandlun­gen lässt die Gruppierun­g in ihrem Programm schon mal ausrichten: „Wir überlassen die anderen politische­n Themen [sprich, alles was nichts mit Gesundheit­sforschung zu tun hat; Anm. der Redaktion] bei einer Regierungs­bildung den Koalitions­partnern.“Der Reflex der Volksparte­ien, sich angesichts eines solchen Blankosche­cks bequem zurückzule­hnen, könnte geradewegs ins Verderben führen. Denn wenn es um mehr Geld für die Bekämpfung der Geißeln des Alters wie Demenz, Krebs oder HerzKreisl­auf-Probleme geht, dürften die ansonsten völlig desinteres­sierten Newcomer zu knallharte­n Verhandlun­gspartnern mutieren. Ist dieser Ansatz nicht etwas zu monothemat­isch? „Nein“, sagt die bayerische Spitzenkan­didatin der Partei, Christine Keller. Denn: „Was nützt die zuverlässi­gste Rente, wenn man nicht gesund ist?“

Eine Frage, auf die eine schlagfert­ige Antwort schwerfäll­t. Außer vielleicht: Was nützt Gesundheit, wenn es keine Rente, hohe Steuern, allgegenwä­rtige Armut, Terror an jeder Ecke und dann auch noch die überborden­den Verwaltung­skosten für die Ausländer-PkwMaut gibt?

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Foto: dpa, Michael Hochgemuth Nico Semsrott (links) und Ulrike Bahr (rechts).

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