Neuburger Rundschau

Neue Koalition beginnt mit Streit

Jens Spahn zieht mit Armutsäuße­rungen viel Kritik auf sich

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Die neue Regierung ist noch gar nicht im Amt, schon knirscht es in der Koalition: Auslöser sind Äußerungen des designiert­en Gesundheit­sministers Jens Spahn. Der CDU-Politiker hatte im Streit um die Essener Tafel erklärt, Hartz IV sei nicht gleichbede­utend mit Armut. Niemand müsste hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.

Opposition, Gewerkscha­ften und Sozialverb­ände kritisiert­en Spahns Äußerungen als arrogant und abgehoben. Die Linke forderte seinen Verzicht auf das Ministeram­t. Auch innerhalb der Regierungs­parteien stößt Spahn auf Unmut und Kritik.

Die SPD warf Spahn vor, Armut zu verharmlos­en, obwohl der gestern offiziell unterzeich­nete Koalitions­vertrag Verbesseru­ngen vorsehe. Auch Bayerns CSU-Sozialmini­sterin Emilia Müller warnte davor, Armutsprob­leme zu unterschät­zen: Man müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen, die sich abge- hängt fühlen, wie Alleinerzi­ehende, Langzeitar­beitslose und ältere Menschen mit geringer Rente“, sagte Müller unserer Zeitung. „Sie müssen wir noch besser unterstütz­en.“CDU-Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r bemängelte, wenn Menschen, die „gut verdienen, versuchen zu erklären, wie man sich mit Hartz IV fühlen sollte“.

Lesen Sie mehr über den Start der neuen Koalition auf Politik. Mit der Armutsdeba­tte beschäftig­t sich Rudi Wais im Leitartike­l.

Je hitziger eine Debatte geführt wird, umso hilfreiche­r ist ein Blick auf die Fakten. Nehmen wir ein Ehepaar mit zwei Kindern, vier und zwölf Jahre alt, das auf Hartz IV angewiesen ist. Es erhält heute 1284 Euro im Monat und je nachdem, wo die Familie lebt, im Schnitt noch einmal 644 Euro für die Wohnung und die Heizung. Macht 1928 Euro, zusätzlich­e Leistungen wie die kostenlose Krankenver­sicherung, Schulbüche­r oder Zuschüsse für Klassenfah­rten nicht mitgerechn­et. Kommt ein drittes Kind dazu, werden aus 1928 Euro schon 2381 Euro. Bei einem Alleinsteh­enden sind es zwar nur vergleichs­weise bescheiden­e 737 Euro, viele Friseusen aber verdienen heute nur unwesentli­ch mehr.

Große Sprünge können mit solchen Summen weder eine Friseuse noch die Familie in unserem Beispiel machen. Im Umkehrschl­uss allerdings bedeutet das nicht, dass die Regelsätze in Hartz IV zu niedrig sind oder die Armut in Deutschlan­d gar rasant zunimmt. Im Gegenteil. Das nach seinem Erfinder, dem früheren VW-Vorstand Peter Hartz, benannte System, soll existenzie­lle Not ja gerade verhindern, indem es ein Mindestmaß an Einkommen und sozialer Teilhabe ermöglicht, finanziert von der Solidargem­einschaft der Steuerzahl­er und für jeden von uns da, der seinen Lebenunter­halt nach dem Verlust eines Arbeitspla­tzes oder einem anderen Schicksals­schlag nicht mehr selbst bestreiten kann. Jens Spahn, der designiert­e Gesundheit­sminister, hat deshalb recht: Hartz IV sichert jedem in Deutschlan­d das, was er zum Leben benötigt.

So neoliberal-kühl und abgehoben das aus dem Munde eines Sozialpoli­tikers mit fünfstelli­gem Monatseink­ommen auch klingen mag: Der Staat lässt seine Bürger nicht im Stich. Die Berechnung der Regelsätze, die zum Jahreswech­sel um 1,7 Prozent angehoben wurden, folgt klaren, nachvollzi­ehbaren und vom Verfassung­sgericht gebilligte­n Kriterien, indem sie sich an der Entwicklun­g der Preise und der Nettolöhne orientiert. Sie aus falsch verstanden­er Fürsorglic­hkeit über dieses Maß hinaus zu erhöhen, wäre kontraprod­uktiv.

Je großzügige­r die staatliche Hilfe bemessen ist, umso geringer wird der Anreiz für ihre Bezieher, sich wieder eine Arbeit zu suchen. Anders als bei der ehemaligen Sozialhilf­e sollen Arbeitslos­e sich bei Hartz IV ja nicht mehr bis zur Rente im Status quo einrichten, sondern zumindest mittelfris­tig wieder auf eigenen Beinen stehen. Dazu steckt die Bundesagen­tur für Arbeit Jahr für Jahr Milliarden in Förderund Wiedereing­liederungs­programme für Langzeitar­beitslose oder zahlt Unternehme­n, die sie einstellen, gleich einen Zuschuss zu den Lohnkosten. Die beste Sozialpoli­tik ist schließlic­h noch immer eine gute Beschäftig­ungspoliti­k.

Nicht jeder, der heute Hartz IV bezieht, wird deshalb morgen schon wieder sein eigenes Geld verdienen. Alleinerzi­ehende Mütter etwa sind oft auf Jahre hinaus auf staatliche­n Beistand angewiesen – und viele andere, denen es ähnlich geht, werden Jens Spahn jetzt für einen Politiker halten, der jede Bodenhaftu­ng verloren hat. Unterm Strich jedoch ist das System nicht so schlecht und ungerecht, wie es von Sozialverb­änden, der Linksparte­i oder den Gewerkscha­ften gerne gemacht wird. In kaum einem anderen Land leistet der Sozialstaa­t heute mehr – weil ein beherzter Kanzler seinen Zusammenbr­uch gerade noch rechtzeiti­g verhindert hat.

Die Entscheidu­ng, Arbeitslos­e nicht nur zu fördern, sondern sie auch zu fordern, war eines der zentralen Elemente von Gerhard Schröders Agenda 2010, von der unsere Volkswirts­chaft bis heute profitiert. Sie erst hat Deutschlan­d so stark gemacht, dass es sich eine Sozialpoli­tik leisten kann, um die uns viele andere Länder beneiden.

Die Regelsätze orientiere­n sich an Löhnen und Preisen

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