Neue Koalition beginnt mit Streit
Jens Spahn zieht mit Armutsäußerungen viel Kritik auf sich
Augsburg Die neue Regierung ist noch gar nicht im Amt, schon knirscht es in der Koalition: Auslöser sind Äußerungen des designierten Gesundheitsministers Jens Spahn. Der CDU-Politiker hatte im Streit um die Essener Tafel erklärt, Hartz IV sei nicht gleichbedeutend mit Armut. Niemand müsste hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.
Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände kritisierten Spahns Äußerungen als arrogant und abgehoben. Die Linke forderte seinen Verzicht auf das Ministeramt. Auch innerhalb der Regierungsparteien stößt Spahn auf Unmut und Kritik.
Die SPD warf Spahn vor, Armut zu verharmlosen, obwohl der gestern offiziell unterzeichnete Koalitionsvertrag Verbesserungen vorsehe. Auch Bayerns CSU-Sozialministerin Emilia Müller warnte davor, Armutsprobleme zu unterschätzen: Man müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen, die sich abge- hängt fühlen, wie Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und ältere Menschen mit geringer Rente“, sagte Müller unserer Zeitung. „Sie müssen wir noch besser unterstützen.“CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer bemängelte, wenn Menschen, die „gut verdienen, versuchen zu erklären, wie man sich mit Hartz IV fühlen sollte“.
Lesen Sie mehr über den Start der neuen Koalition auf Politik. Mit der Armutsdebatte beschäftigt sich Rudi Wais im Leitartikel.
Je hitziger eine Debatte geführt wird, umso hilfreicher ist ein Blick auf die Fakten. Nehmen wir ein Ehepaar mit zwei Kindern, vier und zwölf Jahre alt, das auf Hartz IV angewiesen ist. Es erhält heute 1284 Euro im Monat und je nachdem, wo die Familie lebt, im Schnitt noch einmal 644 Euro für die Wohnung und die Heizung. Macht 1928 Euro, zusätzliche Leistungen wie die kostenlose Krankenversicherung, Schulbücher oder Zuschüsse für Klassenfahrten nicht mitgerechnet. Kommt ein drittes Kind dazu, werden aus 1928 Euro schon 2381 Euro. Bei einem Alleinstehenden sind es zwar nur vergleichsweise bescheidene 737 Euro, viele Friseusen aber verdienen heute nur unwesentlich mehr.
Große Sprünge können mit solchen Summen weder eine Friseuse noch die Familie in unserem Beispiel machen. Im Umkehrschluss allerdings bedeutet das nicht, dass die Regelsätze in Hartz IV zu niedrig sind oder die Armut in Deutschland gar rasant zunimmt. Im Gegenteil. Das nach seinem Erfinder, dem früheren VW-Vorstand Peter Hartz, benannte System, soll existenzielle Not ja gerade verhindern, indem es ein Mindestmaß an Einkommen und sozialer Teilhabe ermöglicht, finanziert von der Solidargemeinschaft der Steuerzahler und für jeden von uns da, der seinen Lebenunterhalt nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes oder einem anderen Schicksalsschlag nicht mehr selbst bestreiten kann. Jens Spahn, der designierte Gesundheitsminister, hat deshalb recht: Hartz IV sichert jedem in Deutschland das, was er zum Leben benötigt.
So neoliberal-kühl und abgehoben das aus dem Munde eines Sozialpolitikers mit fünfstelligem Monatseinkommen auch klingen mag: Der Staat lässt seine Bürger nicht im Stich. Die Berechnung der Regelsätze, die zum Jahreswechsel um 1,7 Prozent angehoben wurden, folgt klaren, nachvollziehbaren und vom Verfassungsgericht gebilligten Kriterien, indem sie sich an der Entwicklung der Preise und der Nettolöhne orientiert. Sie aus falsch verstandener Fürsorglichkeit über dieses Maß hinaus zu erhöhen, wäre kontraproduktiv.
Je großzügiger die staatliche Hilfe bemessen ist, umso geringer wird der Anreiz für ihre Bezieher, sich wieder eine Arbeit zu suchen. Anders als bei der ehemaligen Sozialhilfe sollen Arbeitslose sich bei Hartz IV ja nicht mehr bis zur Rente im Status quo einrichten, sondern zumindest mittelfristig wieder auf eigenen Beinen stehen. Dazu steckt die Bundesagentur für Arbeit Jahr für Jahr Milliarden in Förderund Wiedereingliederungsprogramme für Langzeitarbeitslose oder zahlt Unternehmen, die sie einstellen, gleich einen Zuschuss zu den Lohnkosten. Die beste Sozialpolitik ist schließlich noch immer eine gute Beschäftigungspolitik.
Nicht jeder, der heute Hartz IV bezieht, wird deshalb morgen schon wieder sein eigenes Geld verdienen. Alleinerziehende Mütter etwa sind oft auf Jahre hinaus auf staatlichen Beistand angewiesen – und viele andere, denen es ähnlich geht, werden Jens Spahn jetzt für einen Politiker halten, der jede Bodenhaftung verloren hat. Unterm Strich jedoch ist das System nicht so schlecht und ungerecht, wie es von Sozialverbänden, der Linkspartei oder den Gewerkschaften gerne gemacht wird. In kaum einem anderen Land leistet der Sozialstaat heute mehr – weil ein beherzter Kanzler seinen Zusammenbruch gerade noch rechtzeitig verhindert hat.
Die Entscheidung, Arbeitslose nicht nur zu fördern, sondern sie auch zu fordern, war eines der zentralen Elemente von Gerhard Schröders Agenda 2010, von der unsere Volkswirtschaft bis heute profitiert. Sie erst hat Deutschland so stark gemacht, dass es sich eine Sozialpolitik leisten kann, um die uns viele andere Länder beneiden.
Die Regelsätze orientieren sich an Löhnen und Preisen