Die Piraten sind zurück
Kriminelle machen die Küsten von Venezuela und Guyana unsicher. Die Opfer sind nicht nur einheimische Fischer, sondern auch Touristen – und die Zahl der Überfälle steigt
Rio Chico Einen schöneren Strand gibt es selbst in Venezuela kaum: Inmitten eines Palmenhains gelegen, zwischen einer unter Naturschutz stehenden Lagune und der türkisblauen Karibik, war die Ferienanlage Tortuga Lodge einst ein beliebtes Ziel für Wochenendausflügler, die dem Stress der venezolanischen Hauptstadt Caracas entfliehen wollten. Dann kamen die Piraten. „Eines Nachts legten sie mit Schnellbooten an, bestimmt ein halbes Dutzend Männer, vermummt und schwer bewaffnet“, berichtet ein Wachmann. Sie raubten alle Gäste aus und verschwanden so urplötzlich, wie sie gekommen waren. Der Vorfall sprach sich herum, Touristen blieben fern.
Auch im benachbarten Fischerund Ferienort Rio Chico gammeln Ferienhäuser einsam vor sich hin, die wenigen, die noch benutzt werden, sind mit Überwachungskameras versehen und liegen versteckt hinter meterhohen Mauern und Stacheldraht. Einst waren Korsaren und Piraten die gefürchteten Herren der Karibik, stets auf der Jagd nach spanischen Galonen, die Gold und Silber aus den Kolonien ins spani- sche Mutterland brachten. Nun erleben sie eine moderne Renaissance – befeuert von Wirtschaftskrise, korrupten Sicherheitskräften und gescheiterten Staaten.
Besonders viele Angriffe verzeichnen die Behörden vor der 2700 Kilometer langen Küste Venezuelas und des benachbarten Guyana. In der Karibik haben nach Angaben der Organisation „One Earth Future“die Zwischenfälle im vergangenen Jahr um 160 Prozent zugenommen. 2017 wurden dort insgesamt 71 Angriffe verzeichnet, allein in Guyana starben in diesem Jahr bereits fünf Menschen bei Piratenangriffen auf See. Experten zufolge sind vor Guyana und Suriname schon länger kriminelle Piratenbanden aktiv, die nun offenbar im Angesicht der politischen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela Nachahmer gefunden haben.
„Es gibt zwei Arten von modernen Piraten heute in Venezuela: die professionell operierenden Kommandos und die gewalttätigen Kleinkriminellen“, sagt der Kapitän der Handelsmarine, José Bellaben. Der erste in den Medien kolportierte Piratenangriff in Venezuela fand 2014 in Arapito im Bundesstaat Sucre statt, wo über Weihnachten 300 von schwer bewaffneten, vermummten Angreifern in Schnellbooten ausgenommen wurden. Seither hat sich der Modus Operandi auf die ganze Küste ausgebreitet. Wegen des drohenden Staatsbankrotts sowie Ersatzteilmangels ist die venezolanische Küstenwache auf ein Minimum zusammengeschrumpft und vielerorts nicht mehr operationsfähig. Razzien der Nationalgarde sind ineffizient, die Bevölkerung wirft den Sicherheitskräften Komplizenschaft mit den Banden vor. Fischerorte haben darum bewaffnete Selbstverteidigungskommandos eingerichtet.
Hauptangriffsziel der modernen Seeräuber sind ankernde Jachten und Segelboote. Aber auch Fischer und Frachter gehören zu den Opfern. Und selbst Strandurlauber ergreifen Vorsichtsmaßnahmen. Keiner geht mehr allein am Strand spaTouristen zieren. Kaum ein Tourist betrachtet in Rio Chico noch den Sonnenuntergang. Auch die wenigen noch verbliebenen fliegenden Händler machen sich lange vor der Dunkelheit auf den Heimweg. Die Besitzer von Segel- und Motorbooten starten nur noch im Konvoi zu Ausflugstouren.
Die paradiesische Halbinsel Paria ist inzwischen völlig unter Kontrolle der Drogenmafia, die die dortigen Strände als Lande- und Umschlagplatz nutzt. In Punta de Araya ankerte einst die viertgrößte Thunfisch-Fangflotte der Welt. Durch die Wirtschaftskrise ist die Industrie eingebrochen. „Viele Arbeitslose haben sich zu kriminellen Banden zusammengeschlossen und schmuggeln Drogen oder Nahrungsmittel von der benachbarten Karibikinsel Trinidad, rauben Fischerboote aus, stehlen deren Motoren und Netze – und ertränken oder erschießen die Besatzung“, erzählt Gewerkschaftsführer Jose Antonio Garcia.
In Tortuga Lodge sind die Bungalows vernagelt und der Wachmann findet höchstens noch einen gestrandeten Wal, so wie neulich. Doch noch bevor die Naturschutzbehörde eintraf, hatten ihn hungrige Fischerfamilien zerlegt und das Fleisch untereinander aufgeteilt.