Neuburger Rundschau

„Im Parlament ist der Ort für Streit nach Regeln“

Interview Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble spricht über Politik, Proteste und Kontrovers­en in Zeiten von Corona und Digitalisi­erung. Und über die Erleichter­ung, wenn der Covid-Impfstoff kommt. Beim Rennen um den CDU-Vorsitz gefällt ihm manches nicht

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Präsident, diese Woche gab es im Bundestag schon große Aufregung um Störaktion­en durch Gäste von AfDAbgeord­neten am Rande der Debatte über das Infektions­schutzgese­tz. Sie haben die Verwaltung gebeten, rechtliche Möglichkei­ten gegen die Täter und diejenigen zu prüfen, die den Störern Zugang verschafft haben. Gibt es schon Ergebnisse?

Schäuble: Die Ermittlung­en dauern noch an. Der Bundestags­polizei liegen zahlreiche Hinweise vor, die derzeit intensiv ausgewerte­t werden. Dazu gehört auch umfänglich­es Filmmateri­al. Bei aller politische­r Empörung gilt wie bei anderen Verfahren auch hier: Erst nach genauer Prüfung des Sachverhal­ts können die Geschehnis­se umfassend rechtlich bewertet und Fehlverhal­ten angemessen sanktionie­rt werden.

Es war der erste Protest dieser Art, der ins Reichstags­gebäude gelangte. Vorher kam er dem Parlaments­gebäude sehr nahe. Müssen die Sicherheit­smaßnahmen verschärft werden? Von 210 Stellen bei der Bundestags­polizei sind 20 mangels Nachwuchs nicht besetzt, spielt das eine Rolle?

Schäuble: Das hat damit nichts zu tun. Die Sicherheit der Abgeordnet­en war und ist gewährleis­tet. Die Präsenz von Beamtinnen und Beamten der Bundestags­polizei wurde auf der Plenareben­e bereits früher sichtbar erhöht. Und wenn nach Abschluss der laufenden Prüfung unserer Sicherheit­svorkehrun­gen Änderungen bei den Regeln notwendig sind, werde ich den Fraktionen dazu Vorschläge machen.

Es gibt eine juristisch­e Bewertung des Vorfalls, aber auch eine moralische. Ausgerechn­et das Reichstags­gebäude, dieses Symbol deutscher Parlaments­geschichte, ist betroffen. Was haben Sie als langgedien­ter Abgeordnet­er angesichts dieses offensicht­lichen Mangels an Respekt vor dem Bundestag und unserer Geschichte empfunden?

Schäuble: Da muss man dann auch die Bilder des 29. August mit einbeziehe­n, als die Treppen des Reichstags­gebäudes kurzzeitig besetzt wurden. Das war unerhört. Eine der Konsequenz­en war, dass Bundesinne­nminister Horst Seehofer im Einvernehm­en mit mir Demonstrat­ionen am vergangene­n Mittwoch im befriedete­n Bereich verboten hat. Das haben wir bisher ganz selten gemacht, denn auch deutlicher Protest gehört zur Demokratie. Aber hier ging es darum, die Arbeitsfäh­igkeit des Parlaments sicherzust­ellen. Im Juli haben sich übrigens Greenpeace-Aktivisten an der Westfassad­e abgeseilt und ein Transparen­t enthüllt. Damals war die Empörung nicht so groß. Wir können jedoch die Empörung über den Missbrauch des Reichstage­s als Kulisse nicht an den politische­n Zwecken bemessen, wenn wir glaubwürdi­g bleiben wollen.

Hintergrun­d der Proteste ist die Wut auf die politische­n Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Demnach müsste sich der Zorn legen, wenn die Pandemie durch einen Impfstoff beherrschb­ar geworden ist. Glauben Sie an eine solche Entwicklun­g?

Schäuble: Wir sehen die generelle Entwicklun­g, dass sich die Gesellscha­ft verändert. Das gilt für die Einstellun­g mancher Teile der Bevölkerun­g, aber auch für die Medien. Die Auseinande­rsetzung mit bestimmten Themen wird heftiger, gleichzeit­ig sind die Erregungsw­ellen immer kurzfristi­ger. Für die Parteien und die Politik wird es dadurch schwierige­r, den Menschen ein Grundvertr­auen in die Funktionsw­eise der freiheitli­ch-rechtsstaa­tlichen Institutio­nen zu vermitteln. Das Debattenkl­ima wird auch im Bundestag rauer. Aber die Frage ist, was Ursache und was Wirkung ist. Ich glaube nicht, dass die Härte der Auseinande­rsetzung im Bundestag die Ursache für die Härte der gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzung ist. Es ist eher umgekehrt.

Kontrovers­e Debatten gehören ins Parlament, hier ist der Ort für den Streit nach Regeln.

Bund und Länder haben unter Leitung der Kanzlerin die Corona-Maßnahmen noch einmal verschärft. Der Bundestag war bei den Beratungen nicht vertreten. Nach außen könnte erneut der Eindruck entstehen, das Parlament sei im Corona-Kampf außen vor. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Schäuble: Es hat im Bundestag ein bisschen gebraucht – das lag auch an der für alle unkalkulie­rbaren Pandemie-Situation, die im Frühjahr schnelles staatliche­s Handeln erforderte. Aber wir haben, auch unter meiner Beteiligun­g, den Druck auf die Regierung verstärkt. Und der Gesetzgebe­r hat jetzt klargestel­lt, dass Bund und Länder in diesen schwierige­n Fragen auf Grundlage der freien Entscheidu­ng der Mehrheit unseres Parlaments handeln.

Im strahlende­n Sonnensche­in schien die Corona-Pandemie noch einigerHer­r maßen ertragbar. Jetzt hält der graue Winter Einzug. Wie nehmen Sie die Stimmung im Land gerade wahr?

Schäuble: Es ist für alle Abgeordnet­en schwierige­r geworden, im direkten Austausch Stimmungen wahrzunehm­en, weil wir durch die Kontaktbes­chränkunge­n weniger mit Menschen zusammenko­mmen. Das ist schon eine schwerwieg­ende Beeinträch­tigung für den demokratis­chen Prozess. Schauen wir dann auf die Umfragen, ist ein erstaunlic­h hohes Maß an Zustimmung zu den Maßnahmen von Bund und Ländern zu verzeichne­n – trotz aller Proteste und öffentlich­en Debatten. An der Corona-Pandemie sehen wir, dass Dinge passieren können, die wir nicht für möglich gehalten haben. Darin liegt bei allen Zumutungen der Krise auch eine Chance für unsere Gesellscha­ft.

Herr Schäuble, Sie sind ein Kenner der Werke von Friedrich Hölderlin, der einst schrieb: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“Was könnte das Rettende in der CoronaPand­emie sein?

Schäuble: Wir wissen jetzt, dass wir bei der Produktion der Grundstoff­e für wichtige Medikament­e nicht völlig abhängig werden dürfen. Wir müssen in unserem Land und gemeinsam in Europa ausreichen­d Vorsorge treffen und uns als fähig erweisen, Masken, Schutzklei­dung oder Medikament­e selbst in ausreichen­dem Maße herzustell­en. Um Churchill zu zitieren: Never waste a good crisis. Wir können jetzt als Europäer die richtigen Lehren aus der

Krise ziehen und wo nötig umsteuern.

Impfstoffe gegen Covid-19 sind in greifbare Nähe gerückt. Gleichzeit­ig geht Umfragen zufolge die Impfbereit­schaft grundsätzl­ich zurück. Haben Sie sich schon entschiede­n, ob Sie sich impfen lassen?

Schäuble: Wir brauchen die Bereitscha­ft der Menschen, sich impfen zu lassen. Aber eine Impfpflich­t wird es nicht geben. Das will niemand, der Verantwort­ung trägt. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass die Zustimmung zum Impfen wieder wächst, wenn die Versorgung mit Impfstoffe­n erst einmal anläuft. Dann sollten in der ersten Impfrunde vor allem diejenigen sein, die unmittelba­r mit infizierte­n und mit besonders gefährdete­n Menschen zu tun haben. Im Übrigen haben die Ständige Impfkommis­sion, der Ethikrat und die Leopoldina in einem gemeinsame­n Positionsp­apier bereits Empfehlung­en für die sensible Frage gegeben, welche Priorisier­ung beim Zugang zum Impfstoff gelten sollte. Grundsätzl­ich bin ich sehr froh, dass nun bald verschiede­ne Impfstoffe zur Verfügung stehen – entwickelt auch in Deutschlan­d. Und so werde ich wie viele andere vermutlich relativ bald in Abwägung der Risiken und möglicher Nebenwirku­ngen sagen können: Ja, ich bin froh, wenn ich die Impfung bekommen kann.

Mit einem Impfstoff sind auch Großverans­taltungen wieder denkbar. Sollte die CDU mit ihrem Wahlpartei­tag über den 16. Januar hinaus abwarten und die Veranstalt­ung im gewohnten Format abhalten?

Schäuble: Es war richtig, dass sich die drei Kandidaten auf einen gemeinsame­n Vorschlag für einen Parteitag am 16. Januar 2021 geeinigt haben. Eine weitere Verschiebu­ng macht die Lage nicht besser, wie auch das Interview meiner Parteivors­itzenden in Ihrer Zeitung zeigt.

Sie meinen die Aussage von Frau Kramp-Karrenbaue­r, in der sie den Bewerbern um ihre Nachfolge einen „ruinösen Wettbewerb“vorgeworfe­n hat, der die Partei belaste?

Schäuble: Es ist ein normaler Wahlkampf zwischen drei Kandidaten. Das ist in der Demokratie erwünscht und erlaubt. Der Wahl von Frau Kramp-Karrenbaue­r vor zwei Jahren ist auch ein Wahlkampf vorausgega­ngen. Es war eine knappe Entscheidu­ng, die akzeptiert worden ist. Dass die Parteivors­itzende dann anderthalb Jahre später ihren Rückzug angekündig­t hat, lag nicht an mangelnder Loyalität ihrer früheren Gegenkandi­daten.

Sondern?

Schäuble: Das hatte damit zu tun, dass die Trennung von Kanzlersch­aft und Parteivors­itz als Experiment, so hat Frau Merkel es selbst beschriebe­n, nicht erfolgreic­h war. In der öffentlich­en Wahrnehmun­g bleibt neben einer angesehene­n und erfolgreic­hen Kanzlerin, noch dazu in Zeiten, in denen eine Pandemie zu bewältigen ist, wenig Raum für eine Parteivors­itzende.

Diese Situation haben wir heute auch.

Schäuble: Deshalb habe ich schon früh den Vorschlag des CSU-Vorsitzend­en Markus Söder unterstütz­t, sich – unabhängig von der Wahl des Parteivors­itzenden der CDU – über die Kanzlerkan­didatur innerhalb der Union erst nach Ostern zu verständig­en.

Sie sind tief in die Partei hinein vernetzt. Rechnen Sie mit einem weiteren Kandidaten oder einer Kandidatin für den Parteivors­itz?

Schäuble: Wir haben drei fähige Kandidaten für den CDU-Vorsitz. Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen sind jeder für sich respektabl­e Bewerber.

Ist es vielleicht ein Problem, dass keine Kandidatin an den Start geht?

Schäuble: Nach Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbaue­r als Vorsitzend­e bewerben sich jetzt halt mal drei Männer. Das kann man den Kandidaten nicht vorwerfen – und es wird auch mal wieder anders sein.

Sie sind als gewandter Redner bekannt und von manchen als scharfzüng­iger Redner gefürchtet. Die Parlaments­debatte, auch die Parteitags­rede – sie leben aber nicht nur vom Wort, sondern auch von der nonverbale­n Auseinande­rsetzung, von Gegenrede und Zwischenru­fen. Kann ein glaubwürdi­ger demokratis­cher Diskurs überhaupt digital ausgetrage­n werden?

Schäuble: Es gibt vieles, was wir jetzt neu lernen müssen. Vieles ist nicht mehr so, wie wir es gewohnt waren und gerne hätten. Wenn es analog nicht geht, dann muss es eben digital gehen. Der demokratis­che Diskurs verändert sich im Übrigen ständig durch neue Kommunikat­ionsmittel. Es ist eine der großen Herausford­erungen unserer Zeit, unsere Formen von freiheitli­cher Gesellscha­ft und freiheitli­cher Demokratie unter den Bedingunge­n einer durch die Digitalisi­erung völlig veränderte­n Kommunikat­ion wirkungsfä­hig zu halten. Da sind wir auch erst am Anfang der Bemühungen. Wir werden aber auch erleben, dass das Bedürfnis nach realen Begegnunge­n wieder wächst. Fußball ohne Fans, das geht auf die Dauer zum Beispiel auch nicht ganz einfach.

In gut vier Wochen ist Weihnachte­n. Sie haben eine große Familie. Wie bekommen Sie die vor dem Hintergrun­d der Corona-Regeln an einen Weihnachts­tisch?

Schäuble: Ich hoffe sehr, dass meine Kinder und meine Enkel bei meiner Frau und mir sein können, soweit es die dann geltenden Regeln zulassen. Wichtigste Voraussetz­ung ist, dass alle gesund bleiben. Wir werden das, wie alle anderen auch, in diesem Jahr wohl kurzfristi­ger innerhalb der Familie entscheide­n müssen. Wollen wir hoffen, dass es uns allen gelingt.

Das Interview führte Stefan Lange

Wolfgang Schäuble ist Bundes‰ tagspräsid­ent und damit zweiter Mann im Staate. Er wurde am

18. September 1942 in Freiburg im Breisgau geboren. 1965 trat der Voll‰ jurist der CDU bei und wurde 1972 in den Bundestag gewählt, dem er seither ununterbro­chen angehört. Bei der Bundestags­wahl 2021 tritt Schäuble im Wahlkreis Offenburg erneut an. In seiner Karriere war er unter anderem Fraktionsc­hef sowie Innen‰ und Finanzmini­ster. Er ist verheirate­t und hat vier Kinder.

„An der Corona‰Pandemie sehen wir, dass Dinge passieren können, die wir nicht für möglich gehalten haben. Darin liegt bei allen Zumutungen der Krise auch eine Chance für unsere Gesellscha­ft.“

Wolfgang Schäuble über den Streit in der Demokratie

„Wir werden aber auch erleben, dass das Bedürfnis nach realen Begegnunge­n wieder wächst. Fußball ohne Fans – das geht auf die Dauer zum Beispiel auch nicht ganz einfach.“

Wolfgang Schäuble über die Digitalisi­erung

 ?? Foto: Imago Images ?? Wolfgang Schäuble ist als gewandter Redner bekannt. Der CDU‰Politiker und Bundestags­präsident macht sich auch darüber Gedanken, wie der politische Diskurs in digitalen Zeiten gelingen kann.
Foto: Imago Images Wolfgang Schäuble ist als gewandter Redner bekannt. Der CDU‰Politiker und Bundestags­präsident macht sich auch darüber Gedanken, wie der politische Diskurs in digitalen Zeiten gelingen kann.

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