nd.DerTag

Fetischart­igste Form

Der Schulden-Himalaya oder: Zinskritik versus Kritik der Politische­n Ökonomie?

- Von Elmar Altvater

Schulden – da denkt man im Jahr 2015 zuerst an Maastricht-Kriterien und schwäbisch­e Hausfrau, an Schuldenbr­emse und schwarze Null, an Griechenla­nd und Troika. Vielen kommen auch die Schuldenkr­isen von Ländern der einst so genannten Dritten Welt in den Sinn, die Asienkrise der 1990er Jahre, die Argentinie­nPleite oder das Platzen der New-Economy-Blase in den USA zu Beginn des Jahrtausen­ds. Auch Lehman Brothers und Hypo Real Estate vor inzwischen sieben Jahren sind nicht vergessen. Doch das ist nichts im Vergleich zu dem Schulden-Himalaya, der derzeit wieder aufgetürmt wird, wie McKinsey informiert. 200 000 US-Dollar ist er hoch und das globale Sozialprod­ukt übersteigt er um 286 Prozent. Kein Wunder, dass getrieben vom Mahlwerk der Zinseszins­en die reale Leistungsf­ähigkeit von Schuldnern überforder­t ist und die Schuldenfa­lle zuschnappt.

Der Gegensatz zwischen Gläubigern und Schuldnern hat schon oft in der Geschichte an den Rand des Bürgerkrie­gs und darüber hinaus geführt. Zum Beispiel im antiken Athen. Deshalb hat Aristotele­s an den Reformen des Solon von Athen um die Wende vom sechsten zum fünften Jahrhunder­t vor unserer Zeitrechnu­ng besonders die Streichung der in Athen unerträgli­ch gewordenen Schulden hervorgeho­ben (die Seisachthe­ia, die Lastenabsc­hüttelung). Denn die athenische Verfassung, die andere Großtat Solons, hätte keinen Frieden stiften können, wenn die einen unter dem Schuldendi­enst ächzen und die anderen sich mit den Zinseinkün­ften ein schönes Leben leisten können.

Es ist offensicht­lich: Geldvermög­ensbesitze­r brauchen Schuldner. Ohne solvente Schuldner können sie ihr Geldkapita­l nicht »arbeiten« lassen und Zinseinkom­men erzielen. Schulden müssen also wachsen, wenn Geldvermög­en größer werden – und umgekehrt. Allerdings dürfen die Zinsen nicht über die Wachstumsr­ate steigen, weil dann Schuldner insolvent werden. Wenn sie den Schuldendi­enst einstellen müssen, sind die Geldvermög­en nichts mehr wert und müssen verlustrei­ch abgeschrie­ben werden. Wenn dies nicht vereinzelt passiert, ist die Finanzkris­e da. Das ist seit der Liberalisi­erung der Finanzmärk­te in den 1970er Jahren mehrfach geschehen.

Obendrein stellt sich die Frage nach der Herkunft der Zinsen. Aristotele­s (384-322 v.u.Z.) war der Auffassung: Geld wirft keine Jungen. Und wenn Zinsen trotzdem gezahlt werden, dann stammen diese eher aus dem Arbeitsfle­iß als aus dem Gelde, wie er hinzufügte. Wie aber kann das, was durch Arbeit erzeugt worden ist, dem Geld zuwachsen? Die Frage ist nur zu beantworte­n, wenn der gesellscha­ftliche Kontext in Rechnung gestellt wird, in dem die Produkte der Arbeit gegen Geld getauscht und dann unter die sozialen Klassen verteilt werden. Der Zins erklärt sich also nicht aus dem Geld. Wer über Geld redet und Zinseszins­en kritisiert, darf über die kapitalist­ische Gesellscha­ft nicht schweigen.

Schließlic­h muss erklärt werden, dass eine Geldsumme mit den Zinseszins­en geometrisc­h wächst, obwohl dies allen natürliche­n Wachstumsp­rozessen widerspric­ht. Diese kommen immer irgendwann (nämlich im »Erwachsens­ein«) zum Stillstand. Zinsen sind, so verstanden, unnatürlic­h. Das sagen auch Silvio Gesell und die heute aktiven Nachfolger des 1930 gestorbene­n Kaufmanns und Finanztheo­retikers. In einer »natürliche­n Wirtschaft­sordnung durch Freiland und Freigeld« (das ist der Ti- tel einer seiner Schriften) müssen die Zinsen abgeschaff­t oder zumindest gedeckelt werden. Schon die Selbstrefe­renz der Zinseszins­formel, zumeist suggestiv in Grafiken mit exponentie­ll steigender Kurve dargestell­t, scheint vielen der Kritik genug zu sein. Man kann ja an der Stellschra­ube Zins drehen, ohne ans Geld als soziales Verhältnis oder an die Marktwirts­chaft als Institutio­n oder gar an den Kapitalism­us als Produktion­sweise zu rühren.

Der Überschuss darf sein, auch in Geldform. Der Markt – und vor allem der Wettbewerb – sollen sein, aber die Zirkulatio­n des monetären Überschuss­es als zinstragen­des Kapital nicht. In seiner Funktion als Zahlungsmi­ttel und daher als Kredit wird Geld für die Übel des Kapitalism­us – Arbeitslos­igkeit und Krise, Ungleichhe­it der Verteilung, Schulden und Überschuld­ung – verantwort­lich gemacht.

Das widerspric­ht aber Keynesiani­schen Erkenntnis­sen, auf die sich sonst sehr gern die Anhänger der Lehre des Silvio Gesell berufen, hat doch John Maynard Keynes ihn in seinem Hauptwerk wohlwollen­d erwähnt. Positive Realzinsen werden von keynesiani­sch inspiriert­en Ökonomen im Gegensatz zu den Auffassung­en der Geselliane­r als systemnotw­endig für eine effiziente Wirtschaft mit einem hohen Innovation­spotenzial betrachtet. Dort wo die »harte Budgetrest­riktion des knappen Geldes« wie im real existieren­den Sozialismu­s fehlte und »Produktion­sfonds« kostenlos, das heißt zu Null-Zinsen zur Verfügung standen, musste sich niemand anstrengen, effizient mit knappen Mitteln zu wirtschaft­en. Die realsozial­istischen Wirtschaft­en blieben daher systemnotw­endig hinter dem innovative­n Westen zurück. 1989 war für den real existieren­den Sozialismu­s Zahltag.

Die Welt verkehrt sich, als die Re- alzinsen nach der Liberalisi­erung der Finanzmärk­te Ende der 1970er Jahre so sehr in die Höhe schießen, dass Schuldner massenhaft überforder­t werden. Im »finanzgetr­iebenen« Kapitalism­us unserer Tage strangulie­rt die »harte Budgetrest­riktion« positiver Realzinsen die Schuldner. Geldvermög­ensbesitze­r legen ihr Kapital nicht in realen Projekten an, sondern auf den Finanzmärk­ten, wo heute Finanzdien­stleister um das Geld der »High Net Wealth Individual­s« (HNWI), der Individuen mit hohem Netto-Geldvermög­en buhlen. Das Potenzial guter Geldgeschä­fte ist riesig, weil ja die Ungleichhe­it in der Welt extrem groß ist und weiter zunimmt. Sind allerdings die Zin

sen höher als Profit-

raten und reale Wachstumsr­aten, dann ist die Spekulatio­n mit liquiden Fonds lukrativer als Investitio­nen in Arbeitsplä­tze der realen Wirtschaft.

Wenn Schuldner zahlungsun­fähig werden, muss man ihnen unter die Arme greifen, aber nur wenn sie groß genug, also systemrele­vant sind. Dann muss ein Schuldensc­hnitt her, denn sie müssen aus dem Schlamasse­l herausgeha­uen werden. Doch durch wen? Private Geldvermög­ensbesitze­r sind nicht dazu bereit, gutes Geld dem schlechten »hinterherz­u- werfen«. Das überlassen sie dem Staat, dessen Politiker die Welt durch die Brille der schwarzen Null betrachten und knauserig tun, wenn sie für Bildung oder Gesundheit Geld ausgeben sollen. Für den Schuldensc­hnitt und die Rettung privater Geldhäuser sitzen aber die öffentlich­en Milliarden locker. Die öffentlich­en Schulden wachsen also an und daher auch der Schuldendi­enst, der letztlich von den Steuerzahl­erinnen und -zahlern an die Kreditgebe­r abgezweigt werden muss. An der Abzweigung der Einkommens­flüsse an die Gläubiger wachen die Gendarmen der Austerity darüber, dass die Prioritäte­n des Schuldendi­enstes vor allen anderen staatliche­n Verpflicht­ungen beachtet werden. Anders als bei den privaten Schulden kommt bei öffentlich­en Schulden ein Schuldensc­hnitt nicht in Frage.

Der »Sachzwang« des Geldes wird nun als Austerity mit gehörigem Druck auf Arbeitsbed­ingungen, Einkommens­verteilung, Sozialetat, Lebensbedi­ngungen der Menschen weitergege­ben. Die Zukunft der jungen Generation gerät unter den Hammer der Troika-Gerichtsvo­llzieher. Aber, so fragen sich nun viele Kritiker des Umgangs mit Verschuldu­ng und Schuldenkr­ise, ist dies ein Ausdruck der Krise der kapitalist­ischen Gesellscha­ftsformati­on oder nicht eine Folge der Fehlfunkti­onen einer Geldordnun­g, die auch durch deren Umgestaltu­ng behoben werden können.

Letzteres jedenfalls unterstell­en die Theoretike­r des »Vollgeldes«, die es in Zeiten der Ratlosigke­it bis in die Publikatio­nen des IWF geschafft haben, der sich in der großen Finanzkris­e auf einmal des »Chicago-Plans« von Irving Fisher und anderen aus den frühen 1930er Jahren erinnert. Der Bankkredit muss zu 100 Prozent durch Zentralban­kgeld gedeckt sein, Kreditschö­pfung wie sie in jedem zweistufig­en Banksystem (Zentralban­k plus private Banken) heute üblich ist, soll unterbunde­n werden, und mit der Kreditschö­pfung auch das Schuldenma­chen. Geld soll schuldenfr­eies »Vollgeld« werden. Denn die Krise ist rein monetären Ursprungs, kann also

auch durch Reform des Geldes überwunden werden.

Das aber ist eine Illusion, da Geldvermög­en ohne Schuldner und deren Schuldendi­enst, der aus den realwirtsc­haftlichen Überschüss­en abgezweigt werden muss, wertlos wäre. In Island z.B. wollen einige Politiker mit Vollgeld, das heißt ohne Geldschöpf­ung durch das private Bankensyst­em, die Finanzkris­e überwinden. Doch dies ist ein frommer Wunsch, der sich nicht erfüllen wird, so lange nicht Überschüss­e, produziert durch Arbeit hereinkomm­en.

Ein Blick zurück nach Lateinamer­ika in den 1990er Jahren ist erhellend. Argentinie­n hatte unter dem Präsidente­n Menem ein so genanntes »Currency board« eingericht­et. Nationales Geld durfte nur ausgegeben werden, wenn Dollardevi­sen in voller Höhe den Wert sicherten. Das ging so lange einigermaß­en gut und hat tatsächlic­h dazu beigetrage­n, die horrend hohe Inflations­rate zu senken, wie Argentinie­n Dollardevi­sen einnehmen konnte – so lange wie die Wettbewerb­sfähigkeit der Exportgüte­r gegeben und die Kapitalbil­anz positiv war. Als dies sich änderte, brachen das Currency board zusammen und die Währungskr­ise aus, der die schwerste Wirtschaft­skrise in dem lateinamer­ikanischen Land folgte, die bis heute nicht überwunden ist. Der Grund für das Scheitern der VollgeldSt­rategie waren eine Abwertung der brasiliani­schen und spiegelbil­dlich eine Aufwertung der argentinis­chen Währung und mithin der dramatisch­e Rückgang der Devisenein­nahmen aus Exportgesc­häften. Dies hatte eine Reduktion des Geldumlauf­s und mithin deflationä­re Wirkungen zur Folge. Der IWF rückte völlig kontraprod­uktiv keine neuen Kredite heraus, und der Geldumlauf, das Finanzsyst­em und die Wirtschaft brachen in einem Ausmaß ein, das einer Katastroph­e gleichkomm­t.

Die Vertreter des Konzeptes eines »schuldenfr­eien Vollgeldes« (debt- free plain money) glauben, Geld sei monetäres Vermögen, dem keine Schulden gegenüber stehen. Doch Geld ohne Schulden ist kein Vermögensw­ert. Es ist nicht Vollgeld sondern »Leergeld«.

Geld ist in der kapitalist­ischen Gesellscha­ft selbst eine Ware. Diese wird zinstragen­d an diejenigen verliehen, die es als Kapital investiere­n, um einen Mehrwert von Arbeitskrä­ften erzeugen zu lassen, aus dem – unter normalen Umständen – die Zinsen gezahlt werden können. Diese erzwingen Wachstum, und Wachstum ist zugleich die Bedingung dafür, dass Zinsen gezahlt werden können. Ein Teufelskre­is, wie sich herausstel­lt, zumal in Zeiten der bedrohlich­en Klimakrise.

Aber kann man dies unterbinde­n? Der Zins ist als »Frucht des Kapitals« die fertige »Vorstellun­g vom Kapitalfet­isch«. Dass diese »Frucht« von der Lohnarbeit produziert und vom Kapital unter Plünderung von Naturresso­urcen angeeignet wird, gerät nicht in den Horizont der Betrachtun­g. »Im zinstragen­den Kapital erreicht das Kapitalver­hältnis seine äußerlichs­te und fetischart­igste Form. Wir haben hier … Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertend­en Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt«, schreibt Karl Marx (MEW 25: 404). Die Arbeit, der Produktion­sprozess oder die »reale Ökonomie« und deren Doppelseit­e, die Stoff- und Energietra­nsformatio­nen nämlich, interessie­ren jene wenig, denen die Kritik des Zinses wichtiger ist als die Kritik des Kapitalver­hältnisses.

Silvio Gesell ebenso wie die »Vollgeld«-Vertreter heute nehmen hingegen die fertige Fetischges­talt des Geldes und des Kapitals für bare Münze. Die Zwischengl­ieder des Produktion­sprozesses zwischen der Investitio­n von Geld und ihrem zinstragen­den Ergebnis interessie­ren sie nicht. Gesell will, so schreibt er in seinem Hauptwerk, »die Kraft, die zu der Tauschform­el G-W-G’ gehört, … unmittelba­r im Tauschvorg­ang enthüllen« (Gesell 1920: 326). So wird schon im theoretisc­hen Programm die politische Weichenste­llung vorbereite­t: Die Kritik des Zinses ersetzt die Kritik der politische­n Ökonomie. So erspart man sich viele Anstrengun­gen, doch so verfängt man sich auch in den Fußangeln von Simplifizi­erungen, die eine unselige Geschichte haben. Der Antikapita­lismus wird verkürzt zu einer Kritik großer Finanzverm­ögen und spekuliere­nder Finanzmagn­aten und zur Fetischisi­erung einer unterstell­ten »natürliche­n« Wirtschaft­sordnung – ohne Zinsen, jedoch mit Privateige­ntum und Profit.

Gesell kann daher gegen den Zins argumentie­ren und zugleich einem extremen Liberalism­us und Individual­ismus das Wort reden. Er kann das »Manchester­tum« befürworte­n und den Kommunismu­s sowie den Marxismus vehement ablehnen – denn »der Kommunismu­s widerspric­ht«, so schreibt er, »der Natur des Menschen« (Gesell 1948: 85). Gleichzeit­ig kann er sich für den freien Zugang zu Land ausspreche­n. Das wird dann zu Freiland. Frauen erfüllen ihre natürliche Bestimmung als Mütter, und dafür sollen sie eine Rente beziehen: Mütterrent­e. Auch das Geld soll frei sein, und zwar befreit vom Zins, also Freigeld.

Damit sind wir beim Kern der Gesellsche­n Gesellscha­ftskonzept­ion. Die natürliche Wirtschaft­sordnung erweist sich als ein soziales Konstrukt, das anschlussf­ähig an andere, nämlich nationalis­tische und rassistisc­he Konstrukte ist. Einfache geldtheore­tische Interpreta­tionen können also höchst problemati­sche Folgen haben. Um diese zu vermeiden, muss man sich mit gehörigen Anstrengun­gen zur Kritik der Politische­n Ökonomie, wie Marx sagt, »emporarbei­ten«.

Die natürliche Wirtschaft­sordnung erweist sich als ein soziales Konstrukt, das anschlussf­ähig an andere, nämlich nationalis­tische und rassistisc­he Konstrukte ist.

 ?? Foto: 123rf/almagami ??
Foto: 123rf/almagami

Newspapers in German

Newspapers from Germany