Fahren oder gefahren werden?
Verkehrspsychologen sehen erhebliche Risiken bei der Automatisierung am Steuer von Autos.
Die Bilder von Menschen in automatisch fahrenden Autos, in denen der Fahrer sich zum Small Talk den auf der Rückbank sitzenden Mitfahrern zuwendet, faszinieren viele Menschen. Verkehrspsychologen sehen die Entwicklung eher kritisch. »In der Fokussierung auf die Technik zeigt sich ein erschreckender Mangel an systemischer Denkweise«, so Wolfgang Fastenmeier von der Psychologischen Hochschule Berlin. Zum Verkehr gehörten genauso der Zustand der Verkehrswege und andere Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, vor allem aber der Mensch. Deshalb bringe automatisiertes Fahren nicht zwangsläufig eine Entlastung der Autofahrer und mehr Verkehrssicherheit.
Die Psyche des Menschen – so die Meinung vieler Psychologen – wird von der Autoindustrie nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Allein die Technik und das zu erwartende Geschäft stehen im Fokus. Entstanden sind diverse Fahrerassistenzsysteme (FAS), deren Nutzen in etlichen Fällen statistisch durchaus erwiesen ist.
Zusatzbelastung statt Entlastung
Die rapide zunehmende Computerleistung macht jedoch noch viel mehr möglich. Aus Fastenmeiers Sicht ist es daher an der Zeit, »Grenzen und Risiken dieser Entwicklung stärker zu beleuchten und mit der Mär aufzuräumen, dass ›menschliches Versagen‹ das Hauptproblem im Verkehr darstellt und Technik alles ›automatisch‹ besser machen würde.« Er und andere Verkehrspsychologen verweisen darauf, dass neue Techniken die Aufgabenverteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug verändern, was sowohl Entlastung wie auch Zusatzbelastung bedeuten kann. »Bei den bisherigen FAS bleibt der Fahrer noch aktiv, lenkt selbst, stellt seine Wunschgeschwindigkeit ein, bleibt aber Teil des Regelkreises.« Anders bei einem voll- automatischen, intervenierenden System. Dabei werde die Rolle des Fahrers auf Überwachung reduziert.
Das bedeutet Daueraufmerksamkeit ohne eigene Aktion. »Und das ist etwas, was Menschen erfahrungsgemäß ganz schlecht können«, so Fastenmeier. Solange man lenkt, schaut, Gas gibt, ist es wesentlich leichter aufmerksam zu sein, als wenn man nur überwacht.« Diese Schwachstelle ist aus den Leitwarten großer Industrieanlagen, z.B. Atomkraftwerken und Chemiefabriken bekannt. Der Wechsel vom Überwacher zum Akteur gelingt im Notfall nur schwer, so belegen Berichte, weil das Aufmerksamkeitsniveau erst wieder hochgefahren werden muss. In einer kritischen Situation, in der der Fahrer die Verantwortung wieder übernehmen müsste, wüsste er zu wenig über die Verkehrssituation und den aktuellen Zustand des Fahrzeugs, was Fehlreaktionen und Unfälle begünstigt. Hier kollidieren die Erwartungen von Autofahrern besonders stark mit wissenschaftlicher Erkenntnis. Etwa ein Drittel der Autofahrer freut sich bereits darauf, die Zeit während des automatisierten Fahrens für andere Tätigkeiten – Telefonieren, Lesen, Schreiben oder Surfen im Internet – nutzen zu können. Genau das wäre aber fatal, wie die erwähnten Untersuchungen zeigen.
Großversuche mit intelligenter Geschwindigkeitsassistenz (ISA) in skandinavischen Ländern zeugen von einem weiteren Problem. In der »Light-Variante« des Systems bekommt der Fahrer bei Geschwindigkeitsbegrenzungen Informationen über das vorgeschriebene Tempo und kann entscheiden, ob er sie akzeptiert oder nicht. Die Versuche ergaben, dass die Light-Variante das Fahrverhalten und damit den Verkehrsfluss tatsächlich positiv beeinflusst. Bei der intervenierenden Variante dagegen werden die Verkehrsinformationen in die Motorsteuerung eingespielt; das Auto wird auf die vom System als richtig ange- sehene Geschwindigkeit eingestellt. Dieser Zwang führte zu stärkeren Aggressionstendenzen und größerer Risikobereitschaft, sobald das System nicht aktiviert war. Ähnliche Wirkungen traten bei automatischen Abstandsregelsystemen auf. Sobald sie nicht aktiviert waren, wählten Autofahrer kürzere Abstände und achteten auch weniger auf Fußgänger und Radfahrer. Solche Abwehrreaktionen (Reaktanz) scheinen ein grundlegendes Verhaltensprinzip des Menschen zu sein, das dem Erhalt der Kontrolle und damit der psychischen Gesundheit dient, so Fastenmeier. Mit anderen Worten: Reaktanz-Effekte sind absehbar, wenn man zu ei- nem bestimmten zwungen wird.
Verhalten
Mensch versus Computer
ge- Mark Vollrath von der Universität Braunschweig fürchtet bei fortschreitender Automatisierung zudem den dauerhaften Verlust von Fähigkeiten und plädiert deshalb für eine zeitliche Begrenzung des autonomen Fahrens und regelmäßige Schulungen für Autofahrer, wie sie Piloten absolvieren müssen. Wolfgang Fastenmeier geht noch einen Schritt weiter. Er kritisiert die mit der technischen Aufrüstung von Autos verbundene Fokussierung auf das menschliche Versagen und das Extremereignis »Unfall«. Nach Untersuchungen im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen hat ein Fahrer im Durchschnitt alle 150 000 Kilometer einen Bagatellunfall und alle 90 Millionen Kilometer einen Unfall mit tödlich Verletzten. Fahrer machen dieser Studie zufolge beim Fahren pro Kilometer 125 Beobachtungen und treffen 12 Entscheidungen. Nach 10 Milliarden (!) Beobachtungen und einer Milliarde Entscheidungen komme es zu einer Fehlentscheidung mit tödlichem Ausgang.
»Was soll es kosten, diese Zuverlässigkeitswerte des Menschen durch Computer zu erreichen oder gar zu übertreffen? Stattdessen ließe sich etwa die über Jahrzehnte anarchisch gewachsene Infrastruktur großflächig umbauen, und für weniger Verkehr auf den Straßen könnte man Anreizsysteme zum Umsteigen auf die Bahn entwickeln. Die Mittel wären vorhanden, der politische Wille ist es nicht«, so Fastenmeiers Fazit.