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Diplomatie mit Whisky und Wodka

Der israelisch­e Historiker Gabriel Gorodetsky veröffentl­ichte die Tagebücher des Sowjetbots­chafters Iwan Maiski

- Von Horst Schützler

London fand nichts, was Maiski für die Queen zu einer persona non grata gemacht hätte.

Nur Gott, an den Sie nicht glauben, kann Ihnen in den nächsten sechs bis sieben Wochen helfen«, antwortete der britische Premier Winston Churchill dem sowjetisch­en Botschafte­r in London, Iwan Maiski, am 4. September 1941 hinsichtli­ch der Bitte Stalins um militärisc­he Hilfe nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunio­n. Ohne Gottes und Großbritan­niens Hilfe brachte die Rote Armee Ende des Jahres vor Moskau die Aggressore­n zum Stehen.

Vor einiger Zeit hatte ich zur Rezension die russischsp­rachige Publikatio­n des Briefwechs­els Stalins mit Roosevelt und Churchill zur Zeit des Großen Vaterländi­schen Krieges studiert. In diesen neu erschlosse­nen und kompetent kommentier­ten Quellen tauchten wiederholt die »Maiski-Tagebücher« auf, die der israelisch­e Historiker Gabriel Gorodetsky in Moskau »entdeckte«, bearbeitet und zur Veröffentl­ichung vorbereite­t hat. Nunmehr ist eine Auswahl (etwa 25 Prozent der mehr als 1800 Tagebuchse­iten) in deutscher Übersetzun­g erschienen. Sie fußt auf einer im Vorjahr erschienen­en englischsp­rachigen Ausgabe, die wiederum aus einer in Vorbereitu­ng befindlich­en dreibändig­en Gesamtausg­abe zusammenge­stellt wurde.

Gorodetsky – übrigens ein konsequent­er Streiter gegen die Präventivk­riegsthese, nach der Hitler angeblich die Sowjetunio­n überfiel, um einen Angriff Stalins zuvorzukom­men – spricht von einem »einzigarti­gen und fasziniere­nden Tagebuch«, nennt es das »sicherlich wichtigste« unter den wenigen von hohen Sowjetfunk­tionären in den 1930er/40er Jahren geführten Tagebücher­n. Zu Recht schätzt er Maiskis Aufzeichnu­ngen als »eine ebenso akribische wie offenherzi­ge Chronik«. Sie geben ungewöhnli­chen Einblicke in die sowjetisch­e und britische Diplomatie vor und während des Krieges sowie in den Wirkungskr­eis eines Ausnahmedi­plomaten alter Schule. Sie verdeutlic­hen zugleich, wie wichtig bei außenpolit­ischem Gelingen Persönlich­keit und Persönlich­es, Sympathie und Antipathie sind.

Der Tagebuchsc­hreiber kam am 7. Januar 1884 als Iwan Michailowi­tsch Lachowieck­i im Städtchen Kirillow, etwa 400 Kilometer von Moskau entfernt, als Sohn eines Hauslehrer­s polnisch-jüdischer Abstammung zur Welt; das Pseudonym »Maiski« legte er sich 1909 im deutschen Exil zu. Seine Kindheit verbrachte er im sibirische­n Omsk. In St. Petersburg, wo er Geschichte und Philologie studierte, schloss er sich dem menschewis­tischen Flügel der russischen sozialdemo­kratischen Bewegung an, wurde in der Revolution von 1905 verhaftet und verbannt und emigrierte über die Schweiz und Deutschlan­d nach England, wo er sich zu- nächst ohne Kenntnis der Sprache im »riesigen Meer aus Stein« verloren fühlte – bis er in London Freundscha­ft mit Georgi Wassiljewi­tsch Tschitsche­rin und Maxim Maximowits­ch Litwinow schloss, den späteren Volkskommi­ssaren für Auswärtige Angelegenh­eiten der Sowjetunio­n, was sich für seine Diplomaten­karriere als folgenreic­h erwies.

Kurz nach der Februarrev­olution 1917 nach Russland zurückgeke­hrt, suchte und fand er den Weg zu den Bolschewik­i erst 1919/20. Nach »Reuebekenn­tnissen« in deren Partei sowie 1922 in den diplomatis­chen Dienst aufgenomme­n, war er schon 1925 bis 1927 Botschafts­rat in London. Es folgten die Stationen Tokio und Helsinki, ehe er 1932 von Litwinow die Mitteilung über seine Ernennung zum Botschafte­r in Großbritan­nien erhielt. Das Foreign Office in London hatte Moskau mitgeteilt, man habe »nichts gefunden, was ihn für die Regierung Ihrer Majestät zur persona non grata machen würde«. Maiski war erfreut überrascht, Kollegen hingegen »schockiert«. Maiskis Berufung war begünstigt worden durch Stalins Wunsch, den Botschafte­r Grigori J. Sokolnikow, einen früheren Opponenten, abzuberufe­n sowie durch Litwinows Bestreben angesichts der nazistisch­en Gefahr in Deutschlan­d sich auf die Westmächte zu orientiere­n und ein kollektive­s Sicherheit­ssystem mit diesen anzustrebe­n. und für das Zustandeko­mmen des kollektive­n Sicherheit­ssystems ein. Er verurteilt­e das Münchener Abkommen von September 1938 und kritisiert­e die verhängnis­volle Rolle, die dabei der britische Premiermin­isters Chamberlai­n und Außenminis­ter Halifax spielten. Er bestärkte deren Kontrahent­en Churchill und Eden in ihrer Ablehnung der Appeasemen­t-Politik gegenüber Hitlerdeut­schland und später, im Amte als neuer Premier und Chefdiplom­at, deren Hinwendung zur Sowjetunio­n als Bündnispar­tner im Krieg.

Maiski sah sich anfangs mit einer »russlandfe­indlichen Hysterie« in Großbritan­nien im Zusammenha­ng mit den »großen Säuberunge­n« 1937/38 in der Sowjetunio­n konfrontie­rt und war selbst seines Lebens nicht sicher angesichts des Verschwind­ens vieler Berufskoll­egen. Im Mai 1939 präsidiert­e Maiski die letzte Tagung des Völkerbund­es in Genf. Für die Mitglieder des Rates und des Sekretaria­ts gab er ein Mittagesse­n, wozu er aus London Kaviar und Wodka mitgebrach­t hatte. Letztlich jedoch verband sich für ihn mit Genf »ein unangenehm­er, diffuser Nachgeschm­ack. Der Völkerbund verströmte Aasgeruch.«

Nach dem deutsch-sowjetisch­en Nichtangri­ffvertrag von 1939 sah er sich in der Rolle eines »passiven« Botschafte­rs; er empfand sich als »Geächteter«, der erst wieder nach dem deutschen Überfall auf seine Heimat eine »unverzicht­bare Größe« auf internatio­nalem Parkett wurde. Frustriere­nd für ihn muss gewesen sein, dass die vielen auch über ihn laufenden Warnungen vor Hitlers Aggression­splänen im Kreml ignoriert worden sind. Unermüdlic­h setzte sich Maiski für die Schmiedung der AntiHitler-Koalition und eine rasche Eröffnung der Zweiten Front ein, die – hintertrie­ben durch Churchill – erst im Juni 1944 zustande kam.

Maiskis elfjährige­s Wirken als Botschafte­r fußte auf ein enges persönlich­es Verhältnis zu vielen britischen Spitzenpol­itikern und prominente­n Intellektu­ellen. Man traf sich oft bei offizielle­n Anlässen und privat, Empfängen, Banketts, Dinners und TeaPartys. »Plaudereie­n bei Whisky mit Soda« konnten sehr ergiebig sein. Maiski war ein scharfsinn­iger Beobachter und erfasste die »Janusköpfi­gkeit« der Politik. Er charakteri­sierte treffend Personen und deren Ansichten und nutzte seine guten Beziehunge­n zu einem einflussre­ichen Teil der britischen Presse. Die aus Moskau empfangene »Linie« variierte und modifizier­te er mitunter.

Im Sommer 1943 wurde Maiski aus London ebenso wie Litwinow aus Washington abberufen. Beide wurden zu Stellvertr­etenden Außenminis­tern ernannt, was sie als Degradieru­ng empfanden. Grund für die Abberufung­en war Stalins Unzufriede­nheit über die Nichteröff­nung der Zweiten Front. Auch Maiskis Vertrauens­verhältnis zu Churchill behagte dem Kremlchef nicht. »Er rede zuviel und könne seine Zunge nicht hüten«, erklärte Stalin gegenüber Churchill bei dessen Besuch Mitte August 1942 in Moskau, den Maiski »eingefädel­t« hatte.

Der Diplomat wechselte 1946 in den akademisch­en Bereich. Im Februar 1953 wurde er im Zuge der Kampagne gegen eine angebliche »jüdische Ärzteversc­hwörung« verhaftet. Im Prozess 1955 wurde er erst verurteilt und dann begnadigt. Die letzten 20 Jahre seines Lebens widmete Maiski seinen Memoiren, die 1967 im Ostberline­r Dietz Verlag erschienen. Am 3. September 1975 starb der Ausnahmedi­plomat, den man nicht, wie in Rezensione­n hierzuland­e geschehen, als »Gescheiter­ten« oder »Spitzengen­ossen Stalins«, der im »Pelzmantel für die Weltrevolu­tion« eintrat, herabwürdi­gen sollte. Gabriel Gorodetsky: Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932 - 1943. A. d. Engl. v. Karl Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2016. 896 S., geb., 34,95 €.

Maiski stürzte sich sofort in die Arbeit, unterstütz­t von seiner attraktive­n, modebewuss­ten Frau Agnia. Seit 1934 hielt er sein Botschafte­rleben ausführlic­h und literarisc­h gekonnt fest – wohl schon mit dem Blick auf die Nachwelt. Maiski setzte sich mit Geschick für die Verbesseru­ng der sowjetisch-britischen Beziehunge­n

 ?? Foto: picture-alliance/AP ?? Iwan Maiski (l.) mit Winston Churchill auf den Stufen der St. Paul's Cathedral, 16. September 1941
Foto: picture-alliance/AP Iwan Maiski (l.) mit Winston Churchill auf den Stufen der St. Paul's Cathedral, 16. September 1941

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