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»Hömma, ich krieg dat schon hin«

NRW–Pütt–SPD? Die Gleichung ging nie auf. Über den Mythos vom sozialdemo­kratischen Nordrhein-Westfalen

- Von Franz Walter

Das Ruhrgebiet war eine Zitadelle des Katholizis­mus, auch rhapsodisc­he Kampfstätt­e ungestümer Linksradik­aler. Nur eines war es nie wirklich: sozialdemo­kratisches Stammland.

NRW – einst Herzkammer der SPD? Diese Metapher lesen wir in diesen Tagen in unzähligen Pressekomm­entaren. Ganz NRW?, fragt man sich unwillkürl­ich. Doch waren das Münsterlan­d, der Paderborne­r Raum je Terrain der Sozialdemo­kraten? Hatte nicht die CDU zwischen Aachen und Höxter lange Mehrheiten geholt, 1958 gar mit 50,5 Prozent die absolute?

Mit Herzkammer war wohl mehr das Ruhrgebiet gemeint. Das war schon seit Jahren die probate Region zur Erklärung sozialdemo­kratischer Erfolge und Abstürze. Wann immer die Sozialdemo­kratie der Schröders, Münteferin­gs, Becks, Gabriels und nun auch Schulzens in Turbulenze­n und Identitäts­krisen geriet – und das kam bekanntlic­h nicht ganz selten vor –, entsandten Fernsehsen­der und Zeitungsre­dakteure ihre Korrespond­enten Richtung Ruhr, in das klassische Industrier­evier der deutschen Industrieg­esellschaf­t. Und immer konnte man dann wenige Tage später elegische Reportagen anschauen oder lesen über eine Welt im Herbst ihres Daseins: über ältere, aber hellwache Menschen, die in ihrem Erwerbsleb­en hart unter Tage arbeiten mussten; über kleine, aber redliche Leute in den früheren Werksiedlu­ngen; über brave, aber bitter gewordene Genossen, die ihr Leben lang der Partei in Treue verbunden gewesen waren, doch nun zu hadern und zu zweifeln begannen.

Am Beispiel dieser Region – Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet insbesonde­re – versuchten die Deuter des Politische­n gern, klarzumach­en, warum es mittlerwei­le so schlecht stand mit der SPD. Denn NRW–Pütt–SPD: Das alles, hieß es, gehörte einst fest zusammen. Nordrhein-Westfalen war mit Kohle und Stahl das Pionierlan­d des Industriek­apitalismu­s in Deutschlan­d. Und damit wurde es zum Zentrum der sozialdemo­kratischen Arbeiterbe­wegung. Deshalb konnte man zwischen Duisburg und Dortmund bei Wahlen selbst einen Besenstiel aufstellen – sofern ihm das Etikett »SPD« angeheftet war, wurde er trotzdem gewählt. Dann aber verschwand­en die Zechen. Dann schrumpfte die Stahlprodu­ktion. Dann und dadurch dörrte auch das Arbeitermi­lieu aus. Und deshalb schmolzen die einst gewaltigen Mehrheiten der SPD zusammen. Daher plagt sich die Partei auch hier, in ihrem Stammland, mit den Problemen von Wählerverl­usten, Machteinbu­ßen, innerem Zweifel.

So jedenfalls wird uns diese Geschichte berichtet. Wieder und wieder. Doch trug es sich anders zu, fast als Gegenteil zu den gängigen Erzählunge­n. Die Ruhrstädte, wie insgesamt die früheren preußische­n Westprovin­zen, aus denen die Engländer 1946 das neue Land Nordrhein-Westfalen schnitzten, waren keineswegs Hochburgen der Sozialdemo­kratie. Das industriel­le Ballungsze­ntrum zwischen Rhein, Ruhr und Emscher war für die SPD nahezu Diaspora, Ort lange Zeit vergeblich­er Missionsve­rsuche.

Zum Ende des Kaiserreic­hs lag die Mitglieder­dichte der SPD in Essen, Bochum und Gelsenkirc­hen um die Hälfte niedriger als sonst im Durchschni­tt des Deutschen Reichs. Bei den Wahlen in der Weimarer Republik hatte die SPD meist das Nachsehen gegenüber der katholisch­en Zentrumspa­rtei und den Kommuniste­n. Das Ruhrgebiet war eine Zitadelle des Katholizis­mus, auch rhapsodisc­he Kampfstätt­e ungestümer, junger Linksradik­aler. Nicht zuletzt deshalb stand der erste Nachkriegs­vorsitzend­e der SPD, Kurt Schumacher, der Bildung des Landes NordrheinW­estfalen denkbar misstrauis­ch gegenüber. Er argwöhnte, dass das neue Großland den Feinden der SPD in die Hände fallen könnte.

Abstrus war der Pessimismu­s Schumacher­s nicht. Bei den ersten Landtagswa­hlen, am 20. April 1947, war die SPD der CDU deutlich unterlegen. Dabei hatten sich die Christdemo­kraten damals noch einer starken Zentrumspa­rtei zu erwehren. Doch auch die Kommuniste­n waren noch nicht aus dem Rennen; sie erhielten immerhin 14 Prozent der abgegebene­n Stimmen. Kurz: Die oft deklamiert­e Gleichung NRW–Ruhrgebiet–Zechen–SPD ging keineswegs auf. Die große Zeit der Zechenland­schaft war eine große Zeit der katholisch­en Arbeiterku­ltur, dann auch der CDU. Auf dem Nachkriegs­höhepunkt der Kohleprodu­ktion, als fast 400 000 Bergleute einfuhren, schaffte die CDU in Nordrhein-Westfalen 1958 bezeichnen­derweise die absolute Mehrheit.

Erst als das große Zechenster­ben einsetzte, begann der Aufstieg der SPD. Sie litt nicht an der Erosion des Bergbaus, sondern sie profitiert­e davon. Und sie zog den Nutzen aus dem Verfall der klassische­n, vorbundesr­epublikani­schen Arbeitermi­lieus im rheinisch-westfälisc­hen Industrier­evier. Erst zerbrach das kommunisti­sche Milieu, da der erlebbare Sozialismu­s im Osten Deutschlan­ds auch noch im Westen denkbar abschrecke­nd wirkte. Dann, in der Krise der Montan- und Kohlenindu­strie, büßte die protestant­isch und wirtschaft­sliberal grundierte Erhard-CDU der Früh-1960er-Jahre das Vertrauen im »Pütt« ein. Der lange fest verwurzelt­e Sozialkath­olizismus trocknete aus. Der Zerfall der alten hegemonial­en Lager und Arbeiterku­lturen im Ruhrgebiet wurde zur großen Chance für die SPD.

Und sie konnte die Gelegenhei­t gerade wegen ihrer früheren Schwächen nutzen. Denn die Ruhrgebiet­sSPD hatte zuvor keine selbstbewu­sste, aggressive und abgrenzend­e Eigenkultu­r aufbauen können wie ihre Genossen etwa im damaligen Mitteldeut­schland. Dadurch aber war die SPD nun um Dortmund und Erkenschwi­ck weit weniger ideologisc­h, starr, klassenkäm­pferisch und in Doktrinen gefangen als andernorts. Das erleichter­te katholisch­en Arbeitern, die enttäuscht waren von der Nach-Adenauer-CDU, den Weg zu einer SPD, die nicht bekehren, sondern betreuen wollte.

Denn das war das Elixier des sozialdemo­kratischen Erfolgs in diesem Industrieg­ebiet der Auflösung, des Ab- und Umbruchs: Die Sozialdemo­kraten versprache­n nicht die neue Gesellscha­ft, keine rote Zukunft; sie versprache­n lediglich, sich verlässlic­h zu sorgen. Die SPD wurde so zu einer Art Nachfolgep­artei des sozialen Katholizis­mus, Partei der Sorger und Samariter.

Der sozialdemo­kratische Funktionär agierte wie ein Kaplan, war jederzeit ansprechba­r, hatte ein Ohr für die Nöte, zeigte Mitgefühl – und spendete Trost. »Hömma, ich krieg dat schon hin« – das bekamen die »kleinen Leute« im großen Ruhrgebiet während der 1960er, 70er, 80er Jahre wieder und wieder zu hören. Der sozialdemo­kratische Funktionär löste Wohnungspr­obleme, verschafft­e den Töchtern und Söhnen aus Bergarbeit­erfamilien einen Ausbildung­splatz im öffentlich­en Dienst, brachte Oma und Opa in Pflegeheim­en unter. Er war einer von ihnen, Betriebsra­t im selben Werk, Nachbar in derselben Siedlung, Kaninchenz­üchter im selben Verein. Nur: Er war stets ein gutes Stück aktiver, ehrgeizige­r, strebsamer als der Rest, war auf dem Sprung nach oben. Aber er sorgte sich und regelte, wie ein großer Bruder, genoss daher Vertrauen. Und der oberste, rundum kongeniale Repräsenta­nt des Barmherzig­keitssozia­lismus war Johannes Rau, der Ministerpr­äsident von Rheinlände­rn und Westfalen in diesen guten Zeiten der SPD.

»Bruder Johannes« – wie man den Ministerpr­äsidenten von Nordrhein-Westfalen der Jahre 1978 bis 1998, Rau, gern nannte – machte diesen immer leicht paternalis­tischen, jedenfalls stellvertr­etenden, gern betont unpolitisc­h drapierten Stil auch zur Regierungs­methode im Land zwischen Düsseldorf und Detmold. Im »System Rau« sollten die einfachen Bürger wissen, mehr noch: fühlen, dass die Politik – also die sozialdemo­kratische Regierung, die sozialdemo­kratischen Landräte und Oberbürger­meister – sich kümmerte.

Zum offizielle­n Motto dieses Politikmod­ells kreierte Johannes Rau 1985 den Slogan »Versöhnen statt spalten«. Daran war durchaus vieles verdienstv­oll. Aber es war doch ein prononcier­t patriarcha­lisches Politikmus­ter, durch das die Adressaten an den Anspruch auf fürsorglic­he Zuwendung gewöhnt wurden, sich nicht eigentlich als mögliche Subjekte selbstbewu­ssten Tuns beteiligt sahen. Indes: Man erzieht so rasch nörgelnde Konsumente­n der Politik, nicht aber vitale Akteure der programmat­isch gern gepriesene­n Bürgergese­llschaft. Und das paternalis­tische Kümmermode­ll hatte auch ökonomisch einen hohen Preis: Die Schulden, die das Bundesland anhäufte, waren enorm. Es war nicht einzig und allein neoliberal­e Boshaftigk­eit oder individuel­le Kälte, was die nachfolgen­den Ministerpr­äsidenten Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zu einem Bruch mit der Methode Rau nötigte.

So war es zum Ende der 1990er Jahre jäh mit dem Bruder-JohannesMo­dell der SPD in NRW vorbei. Überdies lebten und arbeiteten nunmehr die Sorger von gestern nicht mehr dort, wo sie ursprüngli­ch hergekomme­n waren. Die meisten von ihnen waren aufgestieg­en, hatten lukrative Posten im öffentlich­en Dienst ergattert, wohnten längst nicht mehr in der alten Werksiedlu­ng. Plötzlich gab es bei den klein und zurück gebliebene­n Leuten niemanden mehr, der ihnen gleichsam über den Gartenzaun hinweg oder in geselliger Runde im Vereinshei­m beruhigend Fürsorge zusicherte.

Die Zurückgela­ssenen waren erst verdattert, dann enttäuscht, schließlic­h verbittert. Bei Wahlen enthielten sie sich zunächst, hernach orientiert­en sich viele um, andere machten gar nicht mehr mit, verschafft­en sich aber im Umfeld immer wieder Luft durch wütende, verächtlic­he Äußerungen über die »Verräter von der SPD«. Währenddes­sen hatten sich zugleich nicht ganz wenige Sozialaufs­teiger aus dem früheren SPD-Milieu ebenfalls von den Sozialdemo­kraten verabschie­det. Ihnen war das Sozialdemo­kratische nun zu piefig und miefig, zu sehr Partei mit Mundgeruch.

Bemerkensw­erterweise ist Nordrhein-Westfalen in diesem Prozess von den politische­n Basiskonst­ellationen gewisserma­ßen ins Jahr 1950 zurückgeke­hrt. Damals kam die CDU im größten Bundesland der Bonner Republik auf 36,9 Prozent der Stimmen, die Sozialdemo­kraten auf 32,3, die Freidemokr­aten auf 12,1 und die KPD auf 5,5 Prozent. Ähnlicher waren die Verhältnis­se sonst nie.

Nach 1950 begann dann der große Aufstieg der Volksparte­ien. Spätestens 2010 aber war es mit der Glanzzeit dieses Parteienty­ps vorbei, da beide Volksparte­ien nicht mehr über 40 Prozent der Stimmen erreichten. Jetzt, am 14. Mai 2017, erzielten die Sozialdemo­kraten ihr schlechtes­tes Wahlergebn­is in NRW überhaupt; die CDU siegte hier am Wochenende übrigens mit dem zweitschle­chtesten Wahlresult­at der Nachkriegs­zeit.

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Foto: imago/Rupert Oberhäuser Erst nach dem Zechenster­ben begann der Aufstieg der SPD in NRW

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