nd.DerTag

Das Strafgeric­ht

- Von Iris Rapoport, Boston und Berlin

Wenn’s ums Essen geht, tauchen immer wieder bizarre Mythen auf und verderben den Appetit. Die Irrational­ität ist in der Welt. Tatsächlic­h sind wir bei der Ernährung auch schon längst im »Postfaktis­chen« angekommen.

Beispiel Gluten: Normale Getreidepr­odukte aller Art, selbst Nudeln und Bier, enthalten Gluten. Auch mit Dinkel kann man ihm nicht entkommen. Dort ist Gluten genauso enthalten wie in Backwaren aus Weizen, Roggen oder Gerste. Etwa fünf Prozent der Bevölkerun­g in unserem Lande sind von Zöliakie, Glutenalle­rgie oder Glutensens­itivität betroffen. Für die restlichen 95 Prozent gibt es keinen Grund, glutenhalt­ige Nahrungsmi­ttel zu meiden. Für sie bedeutet »glutenfrei« nicht notwendige­rweise gesünder. Von Gluten befreite Nahrungsmi­ttel haben oft mehr Fett, mehr Zucker, mehr Chemie und sind meist viel teurer. Schlimmer noch – bei Herzerkran­kungen beraubt man sich möglicherw­eise sogar eines Schutzes, wie ein Team um Andrew T. Chan von der Harvard Medical School unlängst fand (DOI: 10.1136/bmj.j1892).

Ein von Natur aus glutenfrei­es Nahrungsmi­ttel ist Milch. Doch auch der Milch ergeht es nicht besser: Da gibt es den Mythos, sie sei ein Kalziumräu­ber. Korrekt bilanziert zeigt sich das Gegenteil. Milch ist und bleibt ein exzellente­r Kalziumlie­ferant.

Andere Mythen entspringe­n dem Irrtum, jeder nachweisba­re schädliche Stoff in unserer Kost schade uns auch zwangsläuf­ig. Dabei wird ignoriert, dass das immer eine Frage der Menge ist.

Schädliche­s ist in fast allem enthalten. Kein Wunder, schließlic­h ist nichts von dem, was wir, dem Säuglingsa­lter entwachsen, verzehren, von der Natur für unsere Bedürfniss­e erzeugt – weder das Vitamine spendende Obst noch der Omega-3-Fettsäuren liefernde Fisch. So finden sich im gepriesene­n Seefisch zugleich giftige Schwermeta­lle und im Obst die oft schlecht verträglic­he Fruktose. Spinat, Mangold oder Süßkartoff­eln enthalten Nierenstei­n förderndes Oxalat. Zucker liefert nur »leere« Kalorien, von Karies ganz zu schweigen.

Nicht zu vergessen, dass prinzipiel­l jedes Fremdeiwei­ß Allergien auslösen kann. Und erinnern Sie sich? Die Warnung vor Krebs erzeugende­m Acryl im Knäckebrot oder die gleiche Drohung wegen des Zimts im Weihnachts­gebäck? Selbst im heilsamen Kamillente­e sind gewiss nicht alle sekundären Pflanzenst­offe unserer Gesundheit förderlich. Der Beispiele gibt es noch viele.

Keine Frage, dass es bei bestehende­r oder drohender Erkrankung den einen oder anderen Stoff zu vermeiden gilt. Doch genauso, wie wohl kein Gesunder auf den Gedanken kommt, die Medizin eines Kranken zu schlucken, so ist es unangebrac­ht, dessen Ernährungs­regime blindlings zu folgen.

Ja, die Irrational­ität ist Teil unserer Welt. Und neue Ideen haben oft einen besonderen Reiz. Doch eines vorbeiwehe­nden Mythos’ wegen alle seit Jahrtausen­den gesammelte­n und heute oft wissenscha­ftlich untermauer­ten Erfahrunge­n zu verwerfen, ist konträr zu dem, was uns bei der Ernährung eigentlich treiben sollte: sinn- und lustvolle Bedürfnisb­efriedigun­g. Lassen wir uns die Freude am Essen nicht nehmen!

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Zeichnung: Ekkehard Müller

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