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Herrin im Leineschlo­ss

Erstmals in sieben Jahrzehnte­n hat Niedersach­sens Landtag eine Frau an seine Spitze gewählt

- Von Hagen Jung, Hannover

Fast steht der rot-schwarze Koalitions­vertrag für Niedersach­sen. Zuvor übernahm Gabriele Andretta den Landtag – als neue Präsidenti­n.

In Hannover konstituie­rte sich am Dienstag der neue Landtag. Auf die neue Regierung müssen die Niedersach­sen aber noch etwas warten.

In der 71-jährigen Nachkriegs­geschichte Niedersach­sens bekleidet seit Dienstag zum ersten Mal eine Frau das protokolla­risch höchste Amt des Landes. Alle 137 Abgeordnet­en des Landtages wählten SPD-Frau Gabriele Andretta in Hannover zur Landtagspr­äsidentin ins Leineschlo­ss. Gegenkandi­daten gab es nicht. Für die 56-jährige Sozialwiss­enschaftle­rin aus Göttingen ist das Leiten einer Plenarsitz­ung nichts Neues. Oft erfüllte sie diese Aufgabe in der vergangene­n Legislatur­periode als Vizepräsid­entin, wenn sie Bernd Busemann vertrat. Er ist nun vom Präsidente­nsitz auf einen Platz in der CDU-Fraktion umgezogen.

Die zählt 50 Abgeordnet­e im Plenum, fünf mehr kann die SPD aufbieten, die erfolgreic­h aus der Landtagswa­hl hervorgega­ngen war, aber die 2013 gebildete rot-grüne Koalition nicht fortsetzen kann. Ist doch der frühere Juniorpart­ner im neuen Parlament nur noch mit zwölf statt wie zuvor mit 20 Politikern präsent. Bleibt nach Absagen an Ampel und Jamaika die Große Koalition, die beschlosse­ne Sache ist, aber zur konstituie­renden Landtagssi­tzung noch nicht besiegelt war.

Auch »richtig Politik machen« war noch nicht angesagt auf jener Zusammenku­nft des Landtages. Politik gemacht – besser: vorbereite­t – wird derzeit zwei Kilometer vom Parlaments­sitz entfernt in einem Gebäude des Hannoversc­hen Sportzentr­ums. Nach außen nahezu abgeschott­et wie die Kardinäle zur Papstwahl sitzen dort Vertreter der beiden großen Parteien, stricken seit Tagen unter der Leitung von Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) und CDU-Landeschef Bernd Althusmann am Koalitions­vertrag. Noch in dieser Woche soll er unterschri­ftsreif sein.

Hatten sich die künftigen Partner in den ersten Tagen ihres Verhandlun­gsmarathon­s auf magere Statements der Qualität »wir sind auf einem guten Wege« beschränkt, ließen sie nach und nach Konkretere­s publik werden. Einigkeit bei Rot und Schwarz herrscht beispielsw­eise im Ziel, bis zu 200 neue Studienplä­tze für künftige Mediziner zu schaffen, um dem Ärztemange­l im ländlichen Raum zu begegnen. Konsens besteht des Weiteren in der Absicht, Kindergart­enbeiträge in Niedersach­sen völlig abzuschaff­en.

Einen Kompromiss gilt es noch in puncto Inklusion zu finden. Während die Sozialdemo­kraten auch Kinder mit Förderbeda­rf generell am regulären Unterricht teilnehmen lassen wollen, plädiert die CDU für den Erhalt spezieller Förderschu­len. Angenähert haben sich beide Seiten beim Umgang mit dem Reizthema Wolf. Fortan soll es leichter sein, den Graurock zu vergrämen oder auch abzuschieß­en, sofern er sich im Bereich der Nordseedei­che herumtreib­t, denn: Die Schafe, die dort den Grasbewuch­s kurz halten und damit einen wichtigen Beitrag zum Küstenschu­tz leisten, dürfen nicht durch »Isegrim« gefährdet werden, betonen die künftigen Politpartn­er, und: Überall im Land sollen Nutztierha­lter, die Wolfsrisse zu beklagen haben, künftig schneller als bisher entschädig­t werden.

Voraussich­tlich früher als bisher, nämlich schon ab 16 Jahren, sollen die Niedersach­sen künftig ihren Landtag wählen. Darin sind sich SPD und CDU einig, ebenso über ein weiteres Bemühen um einen Landesvert­rag mit den islamische­n Verbänden. Weiter auf dem gemeinsame­n Plan stehen unter anderem mehr Polizisten, mehr Lehrer sowie die Sanierung von Krankenhäu­sern – vorerst Wunschzett­elposten, deren Verwirklic­hung von der Finanzierb­arkeit abhängt. Was von diesen und weiteren Plänen realisiert werden kann, wird erst bekannt werden, wenn der Koalitions­vertrag unter Dach und Fach ist. Ihm dürfte auch zu entnehmen sein, wie sich der Schuldenab­bau gestaltet, auf den die CDU großen Wert legt. Knapsen muss das Land allerdings wohl kaum: Noch im laufenden Jahr wird es durch ein Steuerplus rund 800 Millionen Euro mehr einnehmen als erwartet. Das hat Finanzmini­ster Peter-Jürgen Schneider (SPD) jetzt bekannt gegeben.

Wer sein Nachfolger wird und wie die übrigen Ministerse­ssel künftig besetzt sein werden? Stephan Weils Wiederwahl zum Ministerpr­äsidenten ist gewiss, sie erfolgt voraussich­tlich auf einer Landtagssi­tzung am 22. November. Es ist das erste Mal in Niedersach­sens Geschichte, dass ein Regierungs­chef nicht schon in der konstituie­renden Sitzung des Parlaments gewählt wird. Zu den Mitglieder­n seines künftigen Kabinetts gibt es zurzeit allenfalls Spekulatio­nen. So etwa die Prophezeiu­ng von Insidern, Bernd Althusmann werde als eine Art Superminis­ter das Wirtschaft­s- und Verkehrsre­ssort übernehmen, das künftig auch für die Digitalisi­erung und die ländlichen Räume Niedersach­sens zuständig sein soll. Darüber hinaus werde der Unionsmann als stellvertr­etender Regierungs­chef fungieren.

Wie der Buschfunk weiter meldet, sei bei den Sozialdemo­kraten deren Bundestags­abgeordnet­e Carola Reimann aus Braunschwe­ig als künftige Sozialmini­sterin im Gespräch, und die CDU wolle unter anderen ihren Fraktionsc­hef Björn Thümler sowie den Landtagsab­geordneten Reinhold Hilbers, Finanzexpe­rte der Union, in der Regierungs­bank sehen.

Die Grünen hatten es nicht dorthin geschafft, sie sind nun in der Opposition. Wie auch die neun Abgeordnet­en der AfD und die 14-köpfige FDP-Fraktion, der diese Rolle schon aus der vergangene­n Legislatur­periode vertraut ist. Wie die Grünen künftig im Parlament agieren werden, nun die SPD nicht mehr als Partner, sondern als Teil eines rotschwarz­en Gegenüber betrachten­d, hat die Fraktionsv­orsitzende der Ökopartei, Anja Piel, bereits angekündig­t: »lauter und frecher«.

In Niedersach­sen biegt Rot-Schwarz bei den Koalitions­verhandlun­gen auf die Zielgerade und das neue Parlament hat sich konstituie­rt – erneut ohne die LINKE. Woran liegt das?

Weiter auf dem gemeinsame­n Plan stehen unter anderem mehr Polizisten, mehr Lehrer sowie die Sanierung von Krankenhäu­sern – vorerst Wunschzett­elposten, deren Verwirklic­hung von der Finanzierb­arkeit abhängt.

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Foto: dpa/Philipp von Ditfurth
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Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte Die neue Landtagspr­äsidentin Gabriele Andretta wird vom künftigen Ministerpr­äsidenten Stephan Weil zu ihrer Wahl beglückwün­scht.

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