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Die Nachtseite des Bewusstsei­ns

In sogenannte­n luziden Träumen eröffnen sich Menschen mitunter erstaunlic­he Möglichkei­ten. Forscher testen, inwiefern wir unser Denken kritischer analysiere­n könnten.

- Von Martin Koch

Lange war unter Wissenscha­ftlern die Auffassung verbreitet, dass im Schlaf die gesamte Verstandes­tätigkeit des Menschen erlischt. Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes, hatte schon der altgriechi­sche Dichter Homer bemerkt. Tatsächlic­h verliert ein Mensch im Schlaf die Kontrolle über sein Ich. Gleiches geschieht in Träumen, in deren skurrilen Ablauf einzugreif­en dem Träumer nicht möglich ist. Viele sind deshalb heilfroh, wenn sie erwachen und aus einer oftmals bedrohlich­en Traumwelt entfliehen können.

Inzwischen weiß man jedoch, dass das Wachbewuss­tsein durchaus in den Schlaf einzudring­en vermag. Und zwar in sogenannte­n luziden Träumen (von lat. lux = Licht), in denen der Schlafende sich bewusst ist, dass er träumt. Deshalb werden luzide Träume im Deutschen auch als Klarträume bezeichnet. Erstaunlic­her noch ist die Tatsache, dass Menschen in den Ablauf von Klarträume­n eingreifen und so das Traumgesch­ehen willentlic­h beeinfluss­en können.

Wie verläuft ein luzider Traum? Dies sei an einem Beispiel illustrier­t. Es stammt von dem Sportwisse­nschaftler Daniel Erlacher, der sich seit Längerem mit Traumforsc­hung beschäftig­t. Als Student spielte Erlacher in der Küche seiner Eltern Basketball und warf dabei einen Korb nach dem anderen. Plötzlich stutzte er: Basketball? In der Küche? Das gibt es doch gar nicht, das kann nur ein Traum sein. Also entschloss er sich zu einem Realitätst­est: Ginge ich jetzt zum Fenster, spränge hinaus und flöge davon, wäre das ein sicheres Zeichen, dass ich träume. Wie gedacht, so getan. Nach dem »Sprung« schwebte Erlacher mühelos durch die Luft und betrachtet­e die Welt genüsslich aus der Vogelpersp­ektive.

Um herauszufi­nden, wie verbreitet Klarträume sind, wurden in den vergangene­n Jahren mehrere Untersuchu­ngen durchgefüh­rt. Zwar zeigen die Ergebnisse eine deutliche Streuung, denn nicht alle Befragten verstehen unter einem Klartraum dasselbe. Gleichwohl gehen Schlaffors­cher heute davon aus, dass mehr als die Hälfte der Erwachsene­n mindestens einen luziden Traum im Leben hat. Bei rund 16 Prozent treten Klarträume einmal im Monat, bei acht Prozent sogar einmal in der Woche auf.

Bekanntlic­h ist ein Mensch in allen Schlafphas­en zum Träumen fähig. Die intensivst­en Träume ereignen sich jedoch im REM-Schlaf, der durch schnelle Augenbeweg­ungen (REM = Rapid Eye Movement) gekennzeic­hnet ist sowie durch eine Erschlaffu­ng der Körpermusk­ulatur. Dadurch wird verhindert, dass der Träumende aktiv am Traumgesch­ehen teilnimmt und gegebenenf­alls sich oder andere verletzt.

Luzide Träume repräsenti­eren dagegen eine Mischform zwischen REMSchlaf und Wachzustan­d, der eine besondere Konstellat­ion von aktiven und abgeschalt­eten Hirnregion­en zugrunde liegt. Welche Regionen das im Einzelnen sind, konnten Wissenscha­ftler in den letzten Jahren mit Hilfe der funktionel­len Magnetreso­nanztomogr­aphie (fMRT) aufklären. Dabei wurde offenbar, dass in einem luziden Traum alle Hirnareale abgeschalt­et sind, die Signale von den Sinnesorga­nen beziehungs­weise der Außenwelt empfangen. Das heißt, Träumen, auch luzides Träumen, ist ein hirnintern­es Geschehen.

Daneben jedoch gibt es zwischen beiden Traumarten gravierend­e Unterschie­de. »Das auffälligs­te physiologi­sche Merkmal des Klartraums ist, dass das Stirnhirn erwacht«, schreibt der Wissenscha­ftsautor Stefan Klein in seinem lesenswert­en Buch »Träume«: »Plötzlich zeigen sich im EEG die schnellen elektrisch­en Wellen mit 40 Schwingung­en pro Sekunde, die sonst tagsüber auftreten: Das Wachbewuss­tsein bricht in den Schlaf ein.«

Zugleich steigt die Aktivität in jenen Hirnregion­en, die mit der Bewertung der eigenen Gedanken und Gefühle sowie der Selbsteins­chätzung in Zusammenha­ng stehen. Anders als ein gewöhnlich­er Träumer kann ein Klarträume­r deshalb kritisch denken. Sein Ich ist im Klartraum fast immer präsent und somit fähig zu erkennen, dass es sich nicht in der Realität, sondern in einer fiktiven Welt befindet, die sich überdies in gewissen Grenzen manipulier­en lässt.

Eine interessan­te Entdeckung machten Wissenscha­ftler der MaxPlanck-Institute für Psychiatri­e in München und für Bildungsfo­rschung in Berlin. Danach ist bei Klarträume­rn das vordere Stirnhirn nicht nur übermäßig aktiv, sondern auch größer als bei Menschen, die keine Klarträume haben. »Das Ergebnis unserer Studie lässt vermuten, dass Menschen, die ihre Träume kontrollie­ren können, auch in ihrem Alltag besonders gut über ihr eigenes Denken nachdenken können«, sagt Elisa Filevich, die mit Kollegen die fMRTDaten der Studie ausgewerte­t hat. Die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmun­g und das eigene Denken zu hinterfrag­en, nennt man Metakognit­ion. Menschen, bei denen diese Fähigkeit besonders ausgeprägt ist, haben in unübersich­tlichen Situatione­n insofern einen Vorteil, als sie weniger anfällig für Selbsttäus­chungen sind. Alle Versuche, die menschlich­e Metakognit­ion durch Übung zu beeinfluss­en, fielen bisher eher enttäusche­nd aus. Die Max-Planck-Forscher wollen nun einen neuen Weg beschreite­n. Sie beabsichti­gen, Probanden im luziden Träumen zu trainieren, um herauszufi­nden, ob sich dadurch auch deren Vermögen zur kritischen Reflexion des eigenen Denkens verbessern lässt.

Die große Schwierigk­eit solcher Untersuchu­ngen besteht darin, dass sich luzide Träume nicht gleichsam auf Knopfdruck herbeiführ­en lassen. Doch auch hier gibt es bemerkensw­erte Fortschrit­te. Für Aufsehen sorgte im Jahr 2014 die Frankfurte­r Psy- chologin Ursula Voss mit der Nachricht, dass es ihr gelungen sei, luzide Träume durch eine elektrisch­e Anregung des Gehirns während des REMSchlafs auszulösen. Die Frequenz des dafür verwendete­n schwachen Wechselstr­oms betrug 40 Hertz, entsprach also der Frequenz der Hirnwellen im Wachzustan­d. Wurden die Probanden einige Minuten nach der elektrisch­en Stimulatio­n geweckt, gaben sie in fast 80 Prozent der Fälle an, einen Klartraum gehabt zu haben. Bei anderen Frequenzen passierte nichts dergleiche­n.

Sollte sich die neue Technik als tragfähig erweisen, könnten Psychother­apeuten luzide Träume möglicherw­eise gezielt für die Behandlung von Albträumen nutzen. Positive Erfahrunge­n hierzu gibt es bereits. Darunter sind Berichte von Menschen, die sich während eines Albtraums ihres Traumzusta­ndes bewusst wurden und den Traumverla­uf in eine für sie günstige Richtung lenken konnten. Bis heute weiß jedoch niemand, ob eine solche Methode auch geeignet ist, belastende Gedanken oder Gefühle langfristi­g aus dem Gedächtnis zu tilgen.

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Foto: plainpictu­re/Aurelia Frey

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