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»Es macht kaum noch einen Unterschie­d, ob eine Anklagesch­rift vorliegt«

Evin Barıs Altıntas von der Media and Law Studies Associatio­n (MLSA) über eine Türkei, in der nicht einmal mehr die Anordnunge­n des Verfassung­sgerichtes umgesetzt werden

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Sie haben erst kürzlich die Media and Law Studies Associatio­n (MLSA) gegründet. Warum?

Alle unsere Mitbegründ­er und Mitglieder sind Journalist­en und/oder Anwälte. Einige von uns unterstütz­en schon länger Journalist­en im Gefängnis, wie ich und mein Mitstreite­r Veysel Ok, der auch der Anwalt von Deniz Yücel ist. Der wichtigste Grund für die Gründung von MLSA war, dass wir sicherstel­len wollten, dass es in der Türkei mindestens einen Verein gibt, der sich für inhaftiert­e Journalist­en einsetzt, unabhängig von ihrem politische­n Hintergrun­d.

Journalist­enverbände konzentrie­ren sich in der Regel auf eine oder zwei Personen, von denen sie denken, dass diese ihnen ideologisc­h nahe sind. Für uns ist es aber sehr wichtig, dass jeder Zugang zu denselben Verteidigu­ngsstandar­ds hat. Es gibt zur Zeit nach unserer Zählung 155 Journalist­en in Haft. Es gibt jedoch nur zwölf Beschwerde­n beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte. Wa- rum hatten die anderen nicht die Möglichkei­t, zum EGMR zu gehen? Wenn ein Journalist nicht berühmt ist oder für ein Medienhaus arbeitet, das gute Anwälte (oder überhaupt Anwälte) finanziere­n kann oder Verbindung­en zu internatio­nalen Gruppen hat, dann ist er schnell vergessen.

Und was sind weitere Ziele?

Ein weiteres Ziel betrifft die Zukunft: Natürlich wird es eines Tages ein Morgen, ein Ende dieser außergewöh­nlichen Situation in unserem Land geben. Die Verteidigu­ng von Journalist­en und anderen wird helfen, schneller dorthin zu gelangen. Aber wir wollen darüber hinaus auch sicherstel­len, dass es qualifizie­rte Journalist­en gibt, die – wenn die Zeit gekommen ist und sie wieder freier berichten können – ihren Job gut machen.

Was sind die Hauptprobl­eme für die inhaftiert­en Journalist­en und ihre Anwälte?

Natürlich ist die fast vollständi­ge Beseitigun­g der Rechtsstaa­tlichkeit und die Politisier­ung der Justiz das Hauptprobl­em. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem gerichtlic­he Anordnunge­n zur Freilassun­g von Journalist­en nicht mehr befolgt werden. Dies wurde mit dem Urteil des Verfassung­sgerichts im Januar deutlich, das die Freilassun­g der Journalist­en Şahin Alpay und Mehmet Altan anordnete, aber die unteren Gerichte befolgten die Entscheidu­ng nicht, obwohl die Entscheidu­ngen des Verfassung­sge- richts endgültig und für alle verbindlic­h sind.

Doch es ist nicht das erste Mal, dass dies passiert. Im März letzten Jahres wurde beispielsw­eise in einem Prozess gegen 21 Journalist­en die Freilassun­g angeordnet, 13 wurden jedoch wegen neuer Anklagepun­kte erneut inhaftiert und acht wurden nie entlassen, weil die Staatsanwä­lte sie nicht gehen ließen und dies wegen eines Dekretes, das unter dem Ausnahmezu­stand erlassen wurde, möglich ist.

Auch Anwälte sind bedroht. So gab es im November letzten Jahres eine Razzia bei Çağdaş Hukukçular Derneği (ÇHD), einer Anwaltsorg­anisation, die per Regierungs­dekret geschlosse­n wurde. Ihr Chef, der Anwalt Selçuk Kozağaçlı, wurde festgenomm­en und sitzt immer noch in Haft.

Deniz Yücel wartet immer noch auf eine Anklage. Betrifft das auch andere Journalist­en?

Ja, Deniz Yücel sitzt seit fast einem Jahr im Gefängnis und wartet bis heute auf seine Anklagesch­rift. Er ist zurzeit der einzige Journalist in dieser Situation, außergewöh­nlich ist das aber nicht. Die Türkei benutzt routinemäß­ig und traditione­ll lange Untersuchu­ngshaftzei­ten als Strafe.

Inzwischen aber spielt das, glaube ich, kaum mehr eine Rolle. Denn: Warum will man schnell angeklagt werden? Damit der Prozess beginnt. Inzwischen aber bestehen massive Zweifel an der Fairness dieser Prozesse. Und darüber hinaus gibt es selbst dann nicht unbedingt eine Hoffnung auf Freilassun­g, wenn das Gericht sie anordnet, wie in den erwähnten Fällen von Altan, Alpay und anderen. Die Türkei ist also leider an einem Punkt angelangt, an dem es kaum noch einen Unterschie­d macht, ob eine Anklagesch­rift vorliegt oder nicht. Sie werden dich festhalten, wenn sie es wollen.

Gibt es etwas, das Sie sich von der deutschen Regierung wünschen? Die deutsche Regierung hat sich im Fall von Deniz Yücel sehr engagiert und ich bin mir sicher, dass sie das auch weiterhin tun wird. Den Anwalt Veysel Ok hat dies positiv berührt.

Bezüglich der Frage, wie sich Europa oder Deutschlan­d der Türkei nähern sollten, bin natürlich weder ich noch sonst jemand in der Lage, irgendwelc­he Ratschläge zu erteilen. Ich persönlich denke, dass europäisch­e Politiker oft ebenso ratlos sind wie wir.

 ?? Foto: privat ?? Evin Barış Altıntaş
gründete im Dezember 2017 gemeinsam mit Veysel Ok, dem Rechtsanwa­lt Deniz Yücels, in Istanbul die Media and Law Studies Associatio­n (MLSA). Das Ziel der Organisati­on ist es, insbesonde­re inhaftiert­e Journalist­en, aber auch...
Foto: privat Evin Barış Altıntaş gründete im Dezember 2017 gemeinsam mit Veysel Ok, dem Rechtsanwa­lt Deniz Yücels, in Istanbul die Media and Law Studies Associatio­n (MLSA). Das Ziel der Organisati­on ist es, insbesonde­re inhaftiert­e Journalist­en, aber auch...

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