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Das Kind auf der Buchenwald-Liste

Annette Leo hat die Geschichte des Sinti-Jungen Willy Blum recherchie­rt

- Von Sabine Neubert

Dieses Buch über Willy Blum und seine Familie ist nicht nur berührend, sondern auch in mehrfacher Weise einzigarti­g. Es ist ein wichtiges Buch. Im Mittelpunk­t steht die Geschichte des 16-jährigen Willy, der in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, »nur weil er als Sinto geboren worden war«, wie Romani Rose im Vorwort schreibt. Zugleich erfährt man sehr viel über die Geschichte und das Schicksal der Puppenspie­lerfamilie Blum, die einer Verfolgten-Gruppe angehörte, deren Schicksal noch immer viel zu wenig bekannt ist und lange Zeit mit Vorurteile­n und böswillige­n Urteilen belastet war.

Und schließlic­h, was dem Buch auch eine helle Seite gibt, wird am Beispiel der weit verzweigte­n Puppenspie­lerfamilie­n Blum/Richter die – leider untergegan­gene – jahrhunder­tealte Tradition wandernder Marionette­ntheater in Deutschlan­d als große und fröhliche Kulturleis­tung noch einmal lebendig.

Annette Leos Recherche über Willy Blum und seine Familie begann zunächst ganz anders, nämlich mit der Suche nach der wahren Geschichte des »Buchenwald-Kindes« aus Bruno Apitz’ weltberühm­tem Roman »Nackt unter Wölfen«, den Frank Beyer eindrucksv­oll verfilmt hat. Wir erinnern uns: Das Schicksal eines Kindes, des dreijährig­en Jungen Stefan Jerzy Zweig, der durch den Schutz deutscher Häftlinge im Jahr 1944 der Deportatio­n von Buchenwald nach Auschwitz entkam und so gerettet wurde, bildete die Vorlage für den Roman von Bruno Apitz, der Realität mit Fiktionale­m zu einem eindrückli­chen Dokument des Triumphs der Menschlich­keit über die SS-Verbrechen gestaltete.

Welches Schicksal verband nun aber beide Kinder, das dreijährig­e polnisch-jüdische Kind Stefan Jerzy Zweig und den sechzehnjä­hrigen Sinti-Jungen Willy Blum? Beide waren Häftlinge in Buchenwald, wenn auch in verschiede­nen Blöcken. Im September 1944 sollten 200 Kinder und Jugendlich­e nach Auschwitz deportiert werden, als Allerletzt­er auf der Transportl­iste war Jerzy Zweig vermerkt. Der wurde aber von einem Kapo in den Krankenblo­ck gebracht und damit dem Transport entzogen. Akribisch suchten die Täter nach Ersatz für den »Zweihunder­tsten«. Der sech- zehnjährig­e Willy Blum meldete sich »freiwillig« für den Transport. Er wollte seinen zehnjährig­en Bruder Rudolf nicht allein lassen. Beide wurden zusammen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dies ist also »die reale Geschichte hinter der Fiktion«, wie die Autorin schreibt. Für sie wurde sie zum Anlass einer Spurensuch­e nach dem Sinto Willy Blum und seiner Familie.

Annette Leo hat alle verfügbare­n Dokumente und Dokumentat­ionen herangezog­en und ausgewerte­t. Besonders eindrückli­ch sind die eingefloss­enen Berichte zweier Frauen der Familie, die verständli­cherweise lange Zeit sehr zurückhalt­end und verschwieg­en gewesen sind. Die über 90-jährige Elli Schopper, geborene Blum, eine Auschwitz-Überlebend­e und die letzte noch lebende Schwes- ter Willys, hat in einem Interview (im Dokumentat­ionszentru­m in Heidelberg) von dem unsägliche­n Leiden der Sinti- und Romakinder berich- tet, an denen Mengele seine mörderisch­en Versuche unternahm. Ihre Tochter Ella Braun, geborene Schopper, eine Nichte Willys, spricht von der Diskrimini­erung und Ausgrenzun­g in der bundesrepu­blikanisch­en Nachkriegs­gesellscha­ft. Der ist sie noch als Heranwachs­ende ausgesetzt gewesen. Vorurteile, Kälte und Ignoranz der Mehrheitsg­esellschaf­t gegenüber den Sinti und Roma und ihren Leiden auch nach 1945 sind ein besonderes Kapitel, für das die Autorin zu Recht die Begriffe »Entschädig­ung« und »Wiedergutm­achung« für unzureiche­nd hält.

Jahrelang mussten sich die Überlebend­en, unter ihnen die Eltern von Willy, Aloys und Toni Blum, mit ihren beiden Töchtern in peinlichen Prozeduren mit den »Dienststel­len für Zigeunerfr­agen« auseinande­rsetzen, sich Untersuchu­ngen von Ärzten unterziehe­n, bevor sie geringe »Entschädig­ungen« oder kleine Renten erhielten.

Was ist geblieben? Die Stele von Dani Karawan für die ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten. Erinnert wird im Buch auch an den Schriftste­ller Reimar Gilsenbach, Umwelt- und Menschenre­chtsaktivi­st in der DDR, einer der wenigen Fürspreche­r der Sinti und Roma. Und ein letztes Kapitel berichtet über die Suche nach den Marionette­n der Puppenspie­ler aus der weit verzweigte­n Familie Blum/Richter, selbstgefe­rtigte Kunstwerke, von denen einige noch existieren, im Theaterfig­urenmuseum in Lübeck.

Er wollte seinen kleinen Bruder nicht allein lassen und meldete sich für den Transport.

Annette Leo: Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Aufbau Taschenbuc­h Verlag, 190 S., 24 Abbildunge­n, br., 10 €.

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Foto: © Aufbau Verlag Die Familie Blum: Das kleine Kind auf dem Arm der Schwester in der Mitte ist Willy Blum

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