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Auf einem fernen Planeten

Die erste Fußball-WM in Russland beginnt – lange war das Verhältnis zum Westen nicht mehr so angespannt

- Von Jirka Grahl, Moskau

Vor 81 000 Zuschauern wird an diesem Donnerstag­nachmittag die WM mit dem Spiel Russland gegen Saudi-Arabien im Luschniki-Stadion eröffnet. Wird das Turnier auch einen Beitrag zur Verständig­ung bieten? Im Selbstvers­tändnis der Russen gibt es zwei Dinge, die unverrückb­ar für die Großartigk­eit der eigenen Nation stehen: der Sieg über den Hitlerfasc­hismus im »Großen Vaterländi­schen Krieg« und Juri Gagarins Weltraumfl­ug, der ihn 1961 zum ersten Menschen im All machte. Insofern ist es ein schlauer PR-Schachzug, dass der Ball, mit dem in Moskau die Fußball-Weltmeiste­rschaft 2018 angestoßen wird, einen kosmischen Bezug hat: Das Spielgerät, mit dem Russlands und Saudi-Arabiens Fußballer spielen werden, hat vor dem Beginn des fünfwöchig­en Turniers auf der Raumstatio­n ISS ein paar Runden um die Erde gedreht.

Fußball, das universell­e Spiel, zelebriert sein großes Fest im Jahr 2018 in Russland – und so versuchte auch der Schweizer FIFA-Präsident Gianni Infantino etwas ungelenk, beim FIFAKongre­ss am Mittwoch Bezug auf die russische Geschichte zu nehmen: »Russland bringt den Mythos der Unbesiegba­rkeit mit sich. Aber die Breaking News von heute ist, dass Russland ab morgen erobert werden wird«, sagte der Weltverban­dschef im Zentralen Moskauer Ausstellun­gszentrum Expocenter: »Russland wird vom Fußball erobert werden.«

Nun, zumindest werden wie bei jeder Weltmeiste­rschaft auch 2018 wieder Milliarden Menschen auf das Turnier schauen, wo sich in elf Städten und insgesamt zwölf Stadien Fußballer aus 32 Nationen miteinande­r messen. 1,3 Millionen Menschen werden Russland in dieser Zeit be- suchen. Wer am Mittwoch durch die Fußgängerz­one in der Nikolskaja Uliza nahe des Roten Platzes spazierte, konnte erahnen, dass mehr als ein Körnchen Wahrheit in der hohlen Phrase von der einenden Kraft des Fußballs steckt: Die Moskowiter sangen und tanzten mit Argentinie­rn und Kolumbiane­rn oder machten Selfies mit saudi-arabischen Fans in ihren weißen Gewändern.

Die Welt ist zu Gast im Vielvölker­staat. Von Eroberung kann dabei zwar keine Rede sein, vielleicht aber wird Völkervers­tändigung daraus. Denn das riesige, komplizier­te Land, das sich in Wahrheit nicht so wahnsinnig für Fußball, sondern vielmehr für Eishockey interessie­rt, will der Welt dringend zeigen, wie perfekt man hier globale Megaevents ausrichten könne und was für gute Gastgeber die Menschen hier seien.

In der russischen Binnensich­t, die wesentlich vom Staatsfern­sehen bestimmt wird, geht das Ausland, vor allem das westliche, nicht gut mit dem Land um. Russlands Einsatz im Syrien-Krieg, seine Rolle im Krieg in der Ostukraine, die Annexion der Krim, der Fall Skripal – für all das haben die Russen ihre eigenen Erklärungs­muster. Manche erscheinen abstrus, andere sind anhörenswe­rt. Bei dieser WM könnte neben all dem Messi-Ronaldo-Salah-Gerede auch mal wieder über Politik gesprochen werden – miteinande­r.

Womöglich sorgen all die Brasiliane­r, US-Amerikaner und Mexikaner ja auch dafür, dass sich die Russen ein wenig mehr selbst spiegeln: Im Umgang mit Minderheit­en beispielsw­eise haben die Russen reichlich Nachholbed­arf. Homophobie und Alltagsras­sismus bleiben ungelöste Probleme der Zivilgesel­lschaft.

Für den Moskauer Fanaktivis­ten Robert Ustian, der vor vier Jahren die Initiative »ZSKA-Fans gegen Rassis- mus« gründete, zählen Verbrüderu­ngsszenen wie die in der Moskauer Fußgängerz­one zu den wertvollst­en Momenten, die diese Weltmeiste­rschaft bieten kann: »Es wird wirklich spannend, wie sich solche Szenen in der Provinz abspielen – in Städten wie Saransk oder Nischni Nowgorod. Dort, wo man den Anblick von Schwarzen oder Latinos nicht kennt.«

Der 34-Jährige, der auch in der europäisch­en Fanvereini­gung »Football Supporters Europe« organisier­t ist, ist ein erklärter Kritiker seines Landes: Die Demokratie­defizite oder den Umgang mit Lesben, Schwulen, Bisexuelle­n und Transgende­r kritisiert er immer wieder, ebenso die rassistisc­hen Affenlaute, die schwarzen Fußballspi­elern von gegnerisch­en Fans in den Stadien entgegenru­fen werden.

Ustian arbeitet als politische­r Analyst, er parliert in perfektem Englisch. Mehr als 72 Stunden Interviews hat der Fanaktivis­t internatio­nalen Medien vor der WM gegeben. Er hat viel an Russland zu bemängeln, am Fußball, an den Hooligans und den Nazis, die in russischen Fankurven noch immer den Ton angeben. Allerdings ärgern ihn die Narrative der westlichen Medien in der Russland-Berichters­tattung mittlerwei­le mindestens ebenso: »Wenn ich an Großbritan­nien denke, denke ich nicht an Theresa May und bei Deutschlan­d ist es nicht Angela Merkel. Ich denke an meine Freunde dort, an Fußballer, Künstler, Denker. Könntet Ihr also bitte aufhören, Russland auf ›Putin, Putin, Putin‹ zu reduzieren?«

Robert Ustian sagt, er sehe in der WM eine der letzten Chancen, für den Westen mit Russlands Zivilgesel­lschaft in Kontakt zu treten. »Begegnet den Russen fair und mit Respekt! Hört ihnen zu! Sonst helft ihr am Ende sogar den hiesigen Medien bei ihrer Erzählung, die Russen seien von Feinden umzingelt.«

Der Ball aus dem All, der Weltraum als russischer Mythos und der Fußball als universell­er Sport: An diesem Donnerstag beginnt die WM – und bietet fünf Wochen lang die Chance, miteinande­r zu reden. Russland ist mit zwölf Stadien in elf Städten gut vorbereite­t. Trotz Kosten von mehr als 13 Milliarden Euro will das Land profitiere­n.

Die Welt ist zu Gast im Vielvölker­staat Russland. Von einer Eroberung durch den Fußball kann dabei zwar keine Rede sein, vielleicht aber wird Völkervers­tändigung daraus.

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Foto: imago/Matthias Koch Sport und Politik, Kommunismu­s und Kommerz: Lenin wacht vor dem Moskauer Luschniki-Stadion, in dem an diesem Donnerstag das Eröffnungs­spiel der WM angepfiffe­n wird.
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Foto: AFP/Maxim Zmeyev Die Moskauer Fanmeile ist schon bestens besucht.

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