Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Stoner
Auf dem Friedhof aber, als der Sarg ins schmale, mit Kunstrasenmatten ausgelegte Loch hinabgelassen wurde, barg sie das ausdruckslose Gesicht in den Händen und hob erst wieder den Kopf, als ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte.
Nach der Beerdigung verbrachte sie mehrere Tage auf ihrem alten Zimmer, jenem, in dem sie groß geworden war; ihre Mutter sah sie nur zum Frühstück und zum Abendessen. Besucher glaubten, sie habe sich vor Kummer zurückgezogen. „Sie standen sich sehr nahe“, deutete Ediths Mutter geheimnisvoll an. „Weit näher, als es den Anschein hatte.“
Wie zum allerersten Mal aber ging Edith in ihrem Zimmer auf und ab, frei, berührte Wände und Fenster und prüfte, wie solide sie waren. Sie ließ sich einen Koffer voll mit Kindheitssachen vom Dachboden bringen und durchforstete die Schubladen ihrer Kommode, die über ein Jahrzehnt nicht mehr geöffnet worden waren. Leicht irritiert, doch mit einer Muße, als verfügte sie über alle Zeit der Welt, ging sie ihre Sachen durch, streichelte sie, drehte sie mal so, mal so und untersuchte sie mit einer fast feierlichen Sorgfalt. Als sie einen Brief entdeckte, den sie in Kindertagen erhalten hatte, las sie ihn so aufmerksam von Anfang bis Ende, als läse sie ihn zum ersten Mal; als sie eine vergessene Puppe fand, lächelte sie und strich über die angemalten Keramikwangen, als wäre sie wieder ein Kind, das beschenkt worden ist.
Schließlich verteilte sie all ihre Kindersachen auf zwei ordentliche Haufen; zu dem einen gehörten Spielzeug und Nippes, das sie sich selbst zugelegt hatte, heimliche Fo- tos und Briefe von Schulfreundinnen, Geschenke, die ihr von fernen Verwandten gemacht worden waren; der andere Haufen enthielt all das, was ihr Vater ihr gegeben hatte, sowie Dinge, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit ihm standen. Letzterem Haufen widmete sie dann ihre ganze Aufmerksamkeit. Methodisch und mit einem ausdruckslosen Gesicht, das weder Wut noch Freude verriet, nahm sie diese Dinge und vernichtete sie eines nach dem anderen. Die Briefe und Kleider, die Füllung der Puppen, die Nadelkissen und Bilder verbrannte sie im Kamin; Ton- und Porzellanköpfe, Hände, Arme und Beine der Puppen zerstampfte sie in der Feuerstelle zu feinem Pulver; und was nach Brennen und Zerstampfen übrig blieb, fegte sie zusammen und spülte es die Toilette im angrenzenden Badezimmer hinunter.
Als die Arbeit getan war – der Rauch aus dem Zimmer abgezogen, der Kamin gefegt und der verbliebene Besitz wieder in den Schubladen lag –, setzte sich Edith Bostwick Stoner an die Frisierkommode und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, dessen abgegriffene silberne Rückseite sich stellenweise schon löste, sodass ihr Bild hier und da nur unvollständig oder überhaupt nicht wiedergegeben wurde, was ihrem Gesicht ein eigenartig unvollständiges Aussehen verlieh. Sie war dreißig Jahre alt. Ihr Haar verlor den jugendlichen Glanz, winzige Fältchen zeigten sich rund um die Augen, und die Haut über ihren vorspringenden Wangenknochen begann sich zu straffen. Sie nickte dem Bild im Spiegel zu, stand abrupt auf und ging nach unten, wo sie sich zum ersten Mal seit Tagen vergnügt und fast vertraulich mit ihre Mutter un- terhielt. Sie wolle, sagte sie, sich verändern. Zu lange sei sie gewesen, was sie war; sie erzählte von ihrer Kindheit, ihrer Ehe. Und aus Quellen, über die sie reden konnte, wenn auch nur vage und unbestimmt, schuf sie sich ein Bild, dem sie gerecht zu werden wünschte. Fast die gesamten zwei Monate, die sie in St. Louis bei ihrer Mutter blieb, strebte sie nach dieser Selbstverwirklichung.
Sie bat darum, sich eine gewisse Summe borgen zu dürfen, doch ihre Mutter machte ihr das Geld spontan zum Geschenk. Daraufhin kaufte sich Edith eine neue Garderobe und verbrannte die alten, aus Columbia mitgebrachten Kleider; sie ließ sich das Haar kurz schneiden und nach neuester Mode frisieren; und sie kaufte Kosmetikartikel und Parfüms, deren Gebrauch sie täglich auf ihrem Zimmer übte. Sie lernte zu rauchen und gewöhnte sich eine neue Art zu reden an, ein sprödes, unbestimmtes, leicht schrill klingendes Englisch. Nach Columbia kehrte sie erst zurück, als sie eins mit den äußeren Veränderungen geworden war; eine weitere mögliche Veränderung hielt sie noch geheim.
Während der ersten Monate nach ihrer Rückkehr sprühte sie vor Energie und hielt es offenbar nicht länger für nötig, sich einzureden, dass sie krank oder schwach war. Sie trat einer kleinen Theatergruppe bei und widmete sich ganz den Aufgaben, die ihr zugewiesen wurden, entwarf und malte Bühnenbilder, sammelte Geld für die Truppe und übernahm sogar einzelne kleine Rollen. Wenn Stoner nachmittags nach Hause kam, war das Wohnzimmer voll mit ihren Freunden, fremden Menschen, die ihn wie einen Eindringling anstarrten und denen er freundlich zunickte, ehe er sich in sein Arbeitszimmer verzog, durch dessen Wände gedämpft ihre deklamierenden Stimmen drangen.
Edith kaufte ein gebrauchtes Klavier und ließ es ins Wohnzimmer stellen, direkt an die Wand zu Williams Arbeitszimmer. Sie hatte das Klavierspielen kurz vor der Heirat aufgegeben und musste fast wieder von vorn beginnen, übte Tonleitern, probierte Stücke, die viel zu schwer für sie waren, und spielte oft zwei, drei Stunden am Tag, meist abends, wenn Grace bereits im Bett lag.
Die Studentengruppen, die Stoner zu Gesprächen in sein Arbeitszimmer lud, wurden größer, die Treffen häufiger, und Edith gab sich nicht länger damit zufrieden, oben zu bleiben und sich von diesen Versammlungen fernzuhalten. Sie bestand darauf, Tee oder Kaffee zu servieren, und blieb danach gleich im Zimmer, redete laut und aufgekratzt und schaffte es, das Gespräch auf ihre Arbeit im kleinen Theater zu lenken, auf ihre Musik, ihre Malerei und Bildhauerei, mit der sie (wie sie verkündete) beginnen wolle, sobald sie Zeit dafür finde. Die so verblüfften wie verlegenen Studenten blieben bald aus, und Stoner begann, sich mit ihnen auf einen Kaffee in der Cafeteria der Universität oder in einem der kleinen Cafés auf dem Campus zu verabreden.
Ihr verändertes Benehmen ärgerte ihn nicht besonders, weshalb er sie deswegen nicht zur Rede stellte; sie schien ihm glücklich zu sein, wenn auch ihr Glück etwas aufgesetzt wirkte. Letztlich schrieb er es sich selbst zu, dass ihr Leben eine neue Richtung nahm, da er es ihr nicht möglich gemacht hatte, einen Sinn in ihrem gemeinsamen Leben zu finden, in ihrer Ehe.
(Fortsetzung folgt)