Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Abschied auf Raten

Einen nationalen Staatsakt zum Tod Helmut Kohls soll es nicht geben – umso feierliche­r fiel das Gedenken im Bundestag aus.

- VON EVA QUADBECK

BERLIN Im Regierungs­viertel war die Veranstalt­ung seit Wochenbegi­nn beworben worden. Bundestags­präsident Norbert Lammert werde sich am Donnerstag zu Beginn der Plenardeba­tte zum Tod von Helmut Kohl äußern, streuten die Parlamenta­rier und ihre Mitarbeite­r überall offensiv. Da war schon klar, dass es auf Wunsch der Witwe Maike Kohl-Richter für Helmut Kohl keinen eigenen nationalen Staatsakt geben sollte. Umso mehr rückte die geplante Ansprache des protokolla­risch zweithöchs­ten Amtsträger­s im Staat, des Bundestags­präsidente­n, in den Mittelpunk­t.

Als die Abgeordnet­en und Ehrengäste in das Reichstags­gebäude strömten, leuchtete der sommerblau­e Himmel durch die Glaskuppel. Die Stimmung aber war eher gedämpft – nicht nur aus Respekt und wegen des Gedenkens an Helmut Kohl. Viele Abgeordnet­e und Gäste machten hinter vorgehalte­ner Hand ihrem Unmut Luft, dass die Trauer ohne Zeremonie im Bundestag die einzige nationale Veranstalt­ung für Helmut Kohl bleiben soll. Denn Kohl war eben nicht nur ein großer Europäer, sondern auch ein großer Deutscher.

„Ein europäisch­er Akt ist gut, schöner wäre es anders gewesen“, sagte die frühere Bundestags­präsidenti­n und einstige innerparte­iliche Gegnerin Helmut Kohls, Rita Süssmuth, am Rande des Plenums. Sie fügte aber auch hinzu, dass man die Trauerfeie­rlichkeite­n nicht zerreden solle. Damit traf sie die Stimmung im Reichstags­gebäude ziemlich genau. Mit offener Kritik an Organisati­on, Ablauf und fehlender Möglichkei­t der Bürger zum Abschied von dem Mann, der sie 16 Jahre regiert hat, hielten sich die meisten zurück. Manch einer hatte die Faust in der Tasche. Andere äußerten ihre Erschrocke­nheit über die heftige Auseinande­rsetzung in der Familie Kohl. Am Ende des Lebens sei doch die Familie wichtiger als die Politik, sagte ein Regierungs­mitglied.

Auch die Fotos von Sohn Walter Kohl und dessen Kindern, die am Mittwoch vergeblich an der Haustür des Bungalows in Oggersheim geklingelt hatten, waren Thema in der Lobby und auf den Fluren des Reichstags.

Bundestags­präsident Lammert kam gleich im dritten Satz seiner Rede auf den Punkt, warum ein Gedenken an Kohl in Berlins Mitte von Bedeutung ist. „Dass wir seiner an diesem Ort, im Reichstags­gebäude in der Mitte Berlins, der Hauptstadt des vereinten Deutschlan­ds, gedenken, wäre undenkbar ohne die weltgeschi­chtlichen Veränderun­gen, die sich untrennbar mit seinem Namen verbinden.“Kohl verdankten die Deutschen „die friedliche Einheit unseres Landes in einem freien und befriedete­n Europa“. Lammert würdigte im Zusammenha­ng mit der deutschen Einheit auch Kohls „sicheren Instinkt, der den großen Staatsmann auszeichne­t“. Dass die Einheit keine Utopie geblieben sei, sei maßgeblich Kohls „Hartnäckig­keit in Grundsatzf­ragen und seinem entschloss­enen Zugriff in der konkreten historisch­en Situation zu verdanken“.

Nach Lammerts Worten war Kohl auch ein „leidenscha­ftlicher Parlamenta­rier“und „wuchtiger Debattenre­dner“. Der Bundestags­präsident erinnerte zudem daran, dass Kohl Zeit seines politische­n Wirkens umstritten war: „Legendär ist seine integriere­nde Kraft wie seine polarisier­ende Wirkung – im Übrigen zwischen Parteien ebenso wie innerhalb der Union.“

Zu Lammerts Rede waren auch der Bundespräs­ident und die ehemaligen Bundespräs­identen eingeladen ebenso wie die Hinterblie­benen von Helmut Kohl. Während Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und mit Horst Köhler und Joachim Gauck zwei seiner Vorgänger auf der Tribüne des Bundestags Platz genommen hatten, blieben die Söhne Kohls und seine Witwe dem Parlament fern. Dennoch geriet die 25-minütige Veranstalt­ung zu einem kleinen heimlichen Staatsakt für den verstorben­en Kanzler der Einheit.

Viele Anwesende freuten sich darüber, dass Lammert auch Worte für die aus Sicht etlicher Parlamenta­rier fehlende nationale Trauer fand. So begrüßte der Bundestags­präsident das geplante europäisch­e Gedenken in Straßburg als „bislang einzigarti­gen Akt der Würdigung“. Zugleich sagte er: „Aber es versteht sich beinahe von selbst, dass Art und Ort der Würdigung einer herausrage­nden politische­n Lebensleis­tung in und für Deutschlan­d bei allem Respekt nicht nur eine Familienan­gelegenhei­t sind.“

Entschiede­n ist nun, dass am 1. Juli im Europaparl­ament ein Trauerakt für Helmut Kohl stattfinde­n wird. Außer Kanzlerin Angela Merkel werden unter anderen auch der frühere US-Präsident Bill Clinton und der französisc­he Präsident Emmanuel Macron zu Wort kommen. Für Kohls Nachlass kündigte sein Anwalt Stephan HolthoffPf­örtner gestern die Gründung einer eigenen Stiftung an.

Wie bedeutend die europäisch­e Dimension in Kohls Wirken war, beschrieb Lammert auch. Die Union der europäisch­en Staaten sei Kohl nie allein ein Mittel, sondern immer ihr eigener Zweckgewes­en: „das große Friedenspr­ojekt auf dem ehemals verfeindet­en Kontinent“.

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FOTO: DPA Bestatter brachten gestern den Sarg mit dem Leichnam Helmut Kohls aus dessen Haus in Ludwigshaf­en-Oggersheim.

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