Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Richtungss­treit bei den US-Demokraten

- VON FRANK HERRMANN

Mit zunehmende­r Lautstärke dringen linke Demokraten darauf, ein amerikanis­ches Pendant zum britischen LabourChef Jeremy Corbyn zu küren. Ein geeigneter Kandidat ist auch schon gefunden.

WASHINGTON Hätte Jon Ossoff das Votum im sechsten Kongresswa­hlbezirk von Georgia gewonnen, hätte sich Hillary Clinton nachträgli­ch bestätigt gefühlt. Denn Ossoff, ein 30 Jahre alter Dokumentar­filmer, führte einen Wahlkampf, wie ihn auch die gescheiter­te Präsidents­chaftskand­idatin geführt hatte.

Er warb mit aller Macht um die politische Mitte, genauer gesagt: um die Gunst jener gut verdienend­en Bewohner gepflegter Vorstadtsi­edlungen, die traditione­ll eher den Konservati­ven zuneigen, aber zugleich mit der populistis­chen Sprache eines Donald Trump hadern. Was zu kurz kam, waren Antworten auf die Frage, wofür er selber eigentlich stand. Die Parteilink­e fordert Konsequenz­en. Mit der übertriebe­nen Vorsicht schwammige­r Konzepte, mahnt sie, lasse sich kein Blumentopf gewinnen – schon gar nicht die Kongresswa­hl im November 2018, bei der die Demokraten die Mehrheit im Repräsenta­ntenhaus erobern wollen, um Trump auszubrems­en.

Es ist die Stunde der Nüchternhe­it, nüchterner Bestandsau­fnahmen. Bei vier Nachwahlen in Folge, fällig geworden, weil die bisherigen Abgeordnet­en ins Kabinett Trumps aufrückten, haben die Demokraten den Kürzeren gezogen. Erst in Kansas und Montana, dann in South Carolina und Georgia. Zwar fiel der Abstand geringer aus, als es normalweis­e in diesem „roten“, republikan­ischen Milieu der Fall ist. Doch vor allem in Georgia, wo im Speckgürte­l der Metropole Atlanta ein Paukenschl­ag dröhnen sollte, zerplatzte­n die Träume der Opposition. Umso heftiger ist nun ein Richtungss­treit in ihren Reihen entflammt.

Oberwasser haben die Anhänger von Bernie Sanders, dem Senator aus Vermont, der gerade bei Jüngeren punktet, weil er authentisc­h wirkt, ein Original, das nicht erst Scharen von Imageberat­ern konsultier­en muss, ehe er eine Meinung äußert. Was die Partei bislang an Programmen formuliert habe, sei nicht nur verwaschen, sondern auch zu wenig orientiert an den Alltagssor­gen der Menschen, kritisiert der Flügel um Sanders. Mit zunehmende­r Lautstärke dringen linke Demokraten darauf, eine Art amerikanis­chen Jeremy Corbyn zur Leitfigur zu küren. Auf Politiker vom Schlage des britischen LabourChef­s zu setzen, die nicht ständig auf die Umfragen schielen, sondern im Interesse der eigenen Klientel Klartext reden. Weniger Kompromiss, mehr Kampfgeist, lautet die Devise.

Dafür steht Tim Ryan, ein Abgeordnet­er aus Youngstown, einer abgewrackt­en Industries­tadt im Rostgürtel Ohios. Vor ein paar Monaten war er noch gescheiter­t bei dem Versuch, Nancy Pelosi, die 77jährige Ex-Vorsitzend­e der Abgeordnet­enkammer, von der Spitze der demokratis­chen Fraktion im House of Representa­tives zu verdrängen. Doch niemanden würde es überrasche­n, würde er demnächst zum zweiten Mal Anlauf nehmen. „Unsere Marke ist noch schlechter als die Marke Trump“, wettert Ryan.

Viele Wähler trauten den Demokraten einfach nicht zu, sich den Themen zu widmen, die sie daheim am Küchentisc­h wirklich bewegen. Ergo müsse die Partei mehr Mühe darauf verwenden, an überzeugen­den ökonomisch­en Botschafte­n zu feilen. Im Übrigen bringe es nichts, sich damit zu trösten, dass man im Duell mit Trump moralische Siege erringe, sagt Ryan: „Entweder gewinnst du, oder du verlierst. Was zählt, sind allein echte Siege.“

Debbie Dingell, eine Kongressab­geordnete aus Michigan, sieht es ähnlich. Man müsse der frustriert­en Arbeitersc­haft endlich beweisen, dass man ihre Nöte verstehe, mahnt sie. Und klarmachen, dass Trump, der Milliardär in der Rolle des Rächers der Abgehängte­n, mit ihr umspringe wie jeder andere konservati­ve Politiker auch. Mit den Worten von Bernie Sanders fordert die Linke, sich stärker um die Jungen zu kümmern, um die Millennial­s, denen das Gerede vom „American Dream“– gleichen Aufstiegsc­hancen für alle – angesichts exorbitant­er Studiengeb­ühren oft nur noch wie Hohn vorkommen muss.

Auch Chuck Schumer, seit Januar der ranghöchst­e Demokrat im Senat, gerät unter Druck. Vor einem Jahr hatte er mit Blick auf das Duell ums Weiße Haus noch überaus optimistis­che Töne angeschlag­en. „Für jeden Arbeiter, den wir im Westen Pennsylvan­ias verlieren, gewinnen wir zwei moderate Republikan­er in den Vororten Philadelph­ias dazu“, hatte er den Ansatz der Zentristen auf einen lokalen Nenner gebracht. Tatsächlic­h war es die frustriert­e weiße Arbeitersc­haft in Michigan, Pennsylvan­ia und Wisconsin, die den Ausschlag für Trumps Wahlsieg gab.

 ?? FOTO: AFP ?? Ein Anhänger von Bernie Sanders hält ein T-Shirt mit dem Konterfei des amerikanis­chen Senators in die Luft. Auf dem Shirt steht das Sprichwort „Hindsight is 20/20“. Es bedeutet übersetzt: „Hinterher ist man immer klüger“. Der Spruch ist doppeldeut­ig: 2020 steht die nächste US-Wahl an, bei der Sanders erneut kandidiere­n könnte. Der Ursprung des Spruchs liegt derweil in der Augenheilk­unde. Mit „20/20“meinen amerikanis­che Augenärzte die volle Sehkraft.
FOTO: AFP Ein Anhänger von Bernie Sanders hält ein T-Shirt mit dem Konterfei des amerikanis­chen Senators in die Luft. Auf dem Shirt steht das Sprichwort „Hindsight is 20/20“. Es bedeutet übersetzt: „Hinterher ist man immer klüger“. Der Spruch ist doppeldeut­ig: 2020 steht die nächste US-Wahl an, bei der Sanders erneut kandidiere­n könnte. Der Ursprung des Spruchs liegt derweil in der Augenheilk­unde. Mit „20/20“meinen amerikanis­che Augenärzte die volle Sehkraft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany