Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die ungeliebte Mittelmach­t

- VON MARTIN KESSLER

BERLIN Ohne die Krawalle wäre der Gipfel der mächtigste­n Länder der Welt in Hamburg Anfang Juli zur großen Angela-Merkel-Show geworden. Die Kanzlerin moderierte souverän, verteilte Aufgaben und rief wie eine strenge Lehrerin säumige Vertreter an den Verhandlun­gstisch zurück („Wo sind meine chinesisch­en Freunde?“, „Kommt Erdogan noch?“). Plastische­r lässt sich die neue weltpoliti­sche Rolle Deutschlan­ds kaum beschreibe­n.

Doch das Bild täuscht. Trotz aller außenpolit­ischer Aufwertung, trotz hoher Wachstumsr­aten in der Wirtschaft und der Anerkennun­g für die großzügige Aufnahme von Flüchtling­en ist die Stellung Deutschlan­ds prekär. Das Land ist für ein gleichgewi­chtiges Europa zu groß und zu klein, um die Interessen und Werte Europas auf globaler Ebene wirksam zu vertreten. Deutschlan­d ist ein gutes Vierteljah­rhundert nach der wiedergewo­nnenen Einheit zur ungeliebte­n Mittelmach­t geworden, kritisch beäugt von seinen Nachbarn, gefürchtet wegen seines wirtschaft­spolitisch­en Diktats und verspottet wegen der mangelnden Einsatzfäh­igkeit seiner Armee.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass Deutschlan­d unter Kanzlerin Merkel die neue Führungsau­fgabe so stark wahrnimmt wie unter keinem ihrer Vorgänger. Die deutsche Regierungs­chefin führt, ohne aufzutrump­fen. Ganz wie eine Sachwalter­in der politische­n Vernunft – ohne brutale Eigeninter­essen. Merkel hat in der Krim-Krise, bei der Behandlung Griechenla­nds und nicht zuletzt angesichts der Flüchtling­sströme eine Rolle gespielt, die Politologe­n wie Leon Mangasaria­n und Jan Techau in ihrem jüngsten Buch „Führungsma­cht Deutschlan­d“als „Dienendes Führen“bezeichnen.

Je mehr sich aber die Deutschen anstrengen, ja ihnen nach der Amtsüber- nahme von US-Präsident Donald Trump sogar zugetraut wird, „den freien Westen zu führen“(Barack Obama), desto deutlicher werden die Grenzen dieser Macht. Denn die ungewohnte Stärke macht einsam und vollzieht sich in einer Zeit, in der die Positionen weltweit neu verteilt werden.

Die deutsche Regierungs­chefin sieht durchaus das Dilemma und wehrt sich nach Kräften gegen eine Überforder­ung Deutschlan­ds. Doch die ist angesichts der Abwendung der USA, des Ausscheide­ns Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union, der autoritäre­n Tendenzen in Polen und Ungarn, der aggressive­n Haltung Russlands und des Marsches der Türkei in eine nationalre­ligiöse Diktatur schon längst eingetrete­n. Deutschlan­d kann diese Probleme nicht lösen – nicht einmal mit einer starken EU, die ohnehin nirgends zu sehen ist.

Die Bundesrepu­blik kommt zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine höchst unkomforta­ble Position. „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenbur­ger Tor zu ist“, sagte der damalige Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker. Doch der kluge Politiker täuschte sich. Obwohl das Land, wie der frühere Verteidigu­ngsministe­r Volker Rühe meinte, seit der Einheit „von Freunden umzingelt ist“, tun sich die mit der neuen Rolle Deutschlan­ds ziemlich schwer. So ist Frankreich geradezu darauf fixiert, seinen Nachbarn wirtschaft­lich nicht zu stark werden zu lassen. „Was für uns die Atombombe ist, ist für die Deutschen die D-Mark“, hatte François Mitterrand schon vor dem Mauerfall gesagt und die gemeinsame Währung verlangt.

Der Euro aber wurde nicht zu dem Band, das sich seine Väter – EU-Kommission­spräsident Jacques Delors, der damalige Kanzler Helmut Kohl oder Mitterrand – erhofft hatten. Spätestens in der Euro-Krise ab 2010 wurde die Solidaritä­t innerhalb des Währungsve­rbunds brutalstmö­glich getestet. Zwar

„Europa kann die Führungsro­lle nicht übernehmen; dazu ist es viel zu schwach und zu zerrissen“

Joschka Fischer

Außenminis­ter (1998–2005)

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