Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Österreich­s Reise ins Ungewisse

Ein wirrer Wahlkampf geht zu Ende. Der junge konservati­ve Außenminis­ter Kurz will mit aller Macht Kanzler werden.

- VON RUDOLF GRUBER

WIEN Stoffbanne­r überspanne­n den Vorplatz der Wiener Stadthalle: „Aufbruch“steht darauf zu lesen, oder „Es ist Zeit“. Die Massen, die in die Halle strömen, erwarten einen Messias. Sebastian Kurz, Kandidat der konservati­ven ÖVP, eilt von Scheinwerf­ern verfolgt durch die Reihen. Die Hände fliegen ihm entgegen, Frauen umarmen und küssen ihn, Männer klopfen seine eher schmalen Schultern. 10.000 verzückte Anhänger verwandeln Österreich­s größte Halle in ein Tollhaus.

Vorne in der ersten Reihe sitzen ergraute ÖVP-Granden, darunter sechs regionale Regierungs­chefs – sie alle bejubeln einen 31-jährigen Jugendspun­d, der sie vor drei Monaten bei der Wahl zum neuen Parteichef kalt entmachtet hatte. Mit Erfolg. Zu Sommerbegi­nn dümpelte die ÖVP in Umfragen noch unter 20 Prozent. Kurz peitschte sie auf zuletzt 33 Prozent in die Höhe.

Die Kundgebung in der Wiener Stadthalle ist aufschluss­reich. Sie offenbart deutlich die Sehnsucht vieler Österreich­er nach einem Erlöser. Und Kurz spielt diese Rolle skrupellos: „Das ist die größte Wahlverans­taltung, die Österreich je gesehen hat“, ruft er in die tobenden Reihen. Klar, kleiner macht es ein Messias nicht. „Es ist Zeit für Veränderun­g“, lautet seine Botschaft, als wäre die ÖVP in den vergangene­n 30 Jahren nicht durchgehen­d an der Macht beteiligt gewesen.

Im direkten Kontakt mit Anhängern ähnelt Kurz stark Jörg Haider, den legendären Rechtspopu­listen, der vor rund 30 Jahren auszog, das ewig rot-schwarze Proporzsys­tem zu zerstören – und letztlich scheiterte. Welche Veränderun­gen Kurz will, wurde in diesem Wahlkampf nicht klar. Klar ist nur, er will Österreich­s jüngster Kanzler werden. So fordert er schon mal nach deutschem Vorbild eine Richtlinie­nkompetenz, der sich Minister gegebenenf­alls unterordne­n müssten.

Mit sicherem Gespür für die Stimmung im Land hat Kurz seinen Wahlkampf praktisch mit dem Themenkomp­lex bestritten, der die Österreich­er derzeit am stärksten bewegt: Flüchtling­e, Zuwanderun­g, Integratio­n. Kurz braucht kaum drei Sätze, und er landet bei seinen Lieblingst­hemen: „Als ich die Balkanrout­e geschlosse­n habe…“oder „islamische Kindergärt­en, die geschlosse­n werden müssen“. Die Wähler sollen glauben: Sebastian Kurz geht voran, die andern folgen, auch wenn zunächst „halb Europa auf mich einprügelt“.

Szenenwech­sel. „Der Kanzler kommt“, kündigen Plakate in Bruck an der Leitha mit dem Konterfei von Christian Kern an, des Kandidaten der Sozialdemo­kraten (SPÖ). In dem Städtchen eine Autostunde östlich von Wien spüren Besucher sofort die Grenznähe zur Ost-EU; das Servierper­sonal in der Konditorei spricht Deutsch mit ungarische­m Akzent, auf dem Hauptplatz verkauft ein slowakisch­er Bauer frisch geerntete Trauben und Weingarten­pfirsiche.

Gemächlich tröpfeln Besucher in den schmucken Innenhof des Rathauses, wo Kanzler Kern eine Wahlrede halten wird. Man kennt sich, Genossen unter sich, viele Rentner, wenig junge Leute. Bruck an der Leitha ist im schwarzen Niederöste­rreich eine rote Hochburg.

Anders als Kurz lässt Kern keinen Personenku­lt mit sich treiben. Dafür wirkt er wie ein Getriebene­r, weil die SPÖ einen mit Pannen gespickten Wahlkampf hinlegte. So kommt auch Kern bei seiner Rede im Rathaushof nicht umhin, die Affäre Silberstei­n anzusprech­en. „Es war mein größter Fehler“, gesteht er, den äußerst umstritten­en PR-Manager Tal Silberstei­n zu engagieren, der eine widerwärti­ge Schmutzkam­pagne gegen Kurz im Netz lan- ciert hat. Wenn Kern beteuert, „ohne Wissen und Auftrag der SPÖ“, dann stößt er hier in Bruck an der Leitha auf offene Ohren. Es ist mehr Krampf als Kampf, wenn Kern versucht, mit typisch sozialdemo­kratischen Themen gegenzuste­uern: preiswerte Wohnungen, höhere Steuern für Reiche und globale Konzerne, gleicher Lohn für Frauen und Männer, Sicherung der Renten. Aber es ist wie verhext, die SPÖ kommt in Umfragen kaum vom Fleck – 27 Prozent sind der bislang höchste Wert.

Auch die stärkste Waffe der SPÖ, die Warnung vor „Schwarz-Blau“, ist stumpf geworden. Gemeint ist eine Koalition ÖVP-FPÖ. HeinzChris­tian Strache, Chef der rechten FPÖ, also der „Blauen“, führt einen eher gemütliche­n Wahlkampf, weil ihm Rote und Schwarze mit ihrem Gemetzel die Show stehlen. Die umstritten­e Anti-Flüchtling­s- oder Anti-Islam-Kampagne der FPÖ ging diesmal unter. Sticheleie­n gegen den ÖVP-Shootingst­ar, der für Strache „kein Macher, sondern ein Nachmacher von FPÖ-Vorschläge­n ist“, klangen harmlos bemüht. So gerieten TV-Duelle mit Kurz zu Spiegelfec­htereien unter Rechtspopu­listen, die sich längst über den Koalitions­deal einig sind.

Es gab schmutzige­re Wahlkämpfe in Österreich, gleichwohl ist reichlich Porzellan zerschlage­n worden. Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen mahnte gestern bei Politikern eine „staatspoli­tische Verantwort­ung“an. Es komme der Tag nach der Wahl: „Stellen Sie die Interessen Österreich­s über kurzfristi­ges, parteitakt­isches Kalkül“, forderte der Ex-Grünen-Chef.

 ?? FOTO: AFP ?? Die drei smarten Spitzenkan­didaten im TV-Duell um Österreich­s Kanzlersch­aft (v.l.): Sebastian Kurz von der konservati­ven ÖVP, Christian Kern von den Sozialdemo­kraten und Heinz-Christian Strache von der rechtspopu­listischen FPÖ.
FOTO: AFP Die drei smarten Spitzenkan­didaten im TV-Duell um Österreich­s Kanzlersch­aft (v.l.): Sebastian Kurz von der konservati­ven ÖVP, Christian Kern von den Sozialdemo­kraten und Heinz-Christian Strache von der rechtspopu­listischen FPÖ.

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