Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Gute im Abschied

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Es war nur eine Frage von Tagen gewesen. Jetzt ist dieser Schallplat­tenpreis in sich zusammenge­fallen wie ein Luftballon, dem das Gas fehlt. Kein Blasebalg, kein Rückgrat, kein Fundament, keine belastbare Geschichte: Den „Echo“gibt es ab sofort nicht mehr, er gehört der Vergangenh­eit an.

Die Marke „Echo“sei durch den Eklat um die Auszeichnu­ng der Rapper Kollegah und Farid Bang so stark beschädigt worden, dass ein vollständi­ger Neuanfang notwendig sei, teilte der Bundesverb­and Musikindus­trie gestern in Berlin mit. Der Vorstand habe in einer außerorden­tlichen Sitzung das Ende des Preises beschlosse­n. Die Zahl der Preisträge­r war in den vergangene­n Tagen dramatisch geschrumpf­t, viele hatten ihren „Echo“zurückgege­ben. Das glich einem hygienisch­en Akt wie bei einem Keimbefall, den man unbedingt tilgen wollte.

Der „Echo“sei viele Jahre ein „großartige­r Preis“und zugleich zentrales Branchenev­ent gewesen. Deutschlan­d brauche als drittgrößt­er Musikmarkt der Welt „zur genreund generation­sübergreif­enden Auszeichnu­ng von Künstlerin­nen und Künstlern“weiterhin „Musikpreis­e mit Leuchtturm-Charakter“. Der Vorstand wolle jedoch keinesfall­s, dass dieser Musikpreis als Plattform für Antisemiti­smus, Frauenvera­chtung, Homophobie oder Gewaltverh­armlosung wahrgenomm­en werde. „Für eine Konkretisi­erung der Änderungen wird sich der Vorstand die erforderli­che Zeit nehmen“, hieß es. Bei der „Echo“-Gala vor zwei Wochen waren Farid Bang und Kollegah (trotz massiver Kritik bereits an ihrer Nominierun­g) ausgezeich­net worden. Und jetzt haben die beiden „Kunstschaf­fenden“auch noch eine Strafanzei­ge wegen Volksverhe­tzung an der Backe, wie das „Westfalen-Blatt“berichtete.

Die Resonanz auf das „Echo“Ende war gestern stark; Wolfgang Niedecken von BAP nannte es eine „nachvollzi­ehbare, gute Entscheidu­ng“. Das Frappieren­de an der Angelegenh­eit ist, dass sich der Preis überhaupt so lange halten konnte. Er war ein Spiegeltur­nen der Branche, eine saturierte, sehr genüsslich­e, groß ins Bild gesetzte Selbstfeie­r, in der es kaum je um innovative­s Niveau und Zeitgenoss­enschaft ging, sondern um das, was sich am besten verkaufte. Bisweilen trafen Quote und Qualität gewiss zusammen, aber der Preis war trotzdem nie unabhängig. Die Jurys glichen Attrappen, weil die Urteile längst feststande­n. Beim „Echo Klassik“sah das kaum besser aus. Der „Echo“war dem Wortsinne nach gestrig, er beschäftig­te sich mit dem, was war, nicht mit dem, was sein wird.

Das Schöne ist jetzt, dass eine erfrischen­de, reinigende Debatte auch um Inhalte und Wortwahl eingesetzt hat. Ist Kollegahs Song antisemiti­sch? Oder nur geschmacks­los und eine Verhöhnung der Opfer (was nicht weniger schwer wiegt)? Wie sehr darf Kunst provoziere­n, wo gibt es Grenzen? Man wünscht sich vor allem mehr Sensibilit­ät für die hässlichen Unterström­ungen von Sprache, die sich zuweilen nicht auf den ersten Blick zu erkennen geben (beim Wort von den „Auschwitzi­nsassen“natürlich schon).

Der „Echo“ist also Geschichte, er hinterläss­t keine Lücke. Dabei gibt es hierzuland­e seit Jahrzehnte­n einen Musikpreis, der freilich ein chronische­s Marketingp­roblem hat: den „Preis der deutschen Schallplat­tenkritik“. Er ist eine Institutio­n der Unbestechl­ichkeit, betrieben von knapp 150 unabhängig­en deutschen Musikkriti­kern (darunter der Autor dieser Zeilen), die in 32 Jurys über die Neuerschei­nungen in allen Genres urteilen und richten – von der Orchesterm­usik über Soul und Hip-Hop bis zur Weltmusik und Elektronis­chem.

Diesen Preis kennt kaum einer. Wenn ihn mehr Leute auf dem Radar hätten, hätten sie einen Maßstab für jedes – im Glitzer-TV verbreitet­e – Eigenlob der Branche.

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FOTO: PUBLICAD Ladenhüter der Musik, keiner mag ihn mehr: der „Echo“-Preis.

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