Ostthüringer Zeitung (Bad Lobenstein)
Vom starken Umgang mit eigenen Schwächen
Manchmal hilft nicht einmal die Eistonne. Dieser hatte Per Mertesacker bei der WM 2014 noch zum Kultstatus verholfen. Drei Tage wollte er sich darin von der brasilianischen Hitze erholen, sagte er nach dem Achtelfinale gegen Algerien. Und neue Kraft tanken. Wenn es doch nur so einfach wäre.
Im „Spiegel“verriet der FußballWeltmeister kürzlich, wie sehr ihm während seiner Karriere Leistungsdruck und Versagensängste zu schaffen gemacht haben. In einer seltenen Offenheit sprach der aktuell verletzte Kapitän von Arsenal London über Durchfall vor Spielen, über Brechreiz, über Schlaflosigkeit, über Erleichterung, als das Ausscheiden bei der Heim-WM 2006 feststand. Er brach damit ein Tabu; so wie es Thomas Hitzlsperger zuvor schon mit seinem mutigen Outing getan hatte.
Der Aufschrei der Branche war groß. Die Schar der Experten wunderte sich, Ober-Experte Lothar Matthäus war sich nicht zu schade, den Nestbeschmutzer wegzugrätschen: Wenn es so schlimm gewesen ist, warum Mertesacker dann nicht zurückgetreten sei, fragte er in die Runde. Von Verständnis und Empathie keine Spur.
Dabei zeigen die Reaktionen vieler anderer (Ex)-Spieler wie zuletzt Stefan Effenberg, dass der Abwehrrecke kein Einzelfall ist – und erst recht kein Weichei. Ganz im Gegenteil: Wer auf die Schattenseiten in der schillernden Fußball-Welt verweist und die eigenen Schwächen öffentlich thematisiert, muss verdammt stark sein.
Erinnern wir uns an den Herbst 2009. Damals war der Jenaer Nationaltorwart Robert Enke seinen dunklen Gedanken nicht mehr entkommen – und ging. Das ganze Fußball-Land stand unter Schock; eine Debatte über Druck und Stress sowie den Umgang miteinander wurde angestoßen. Sie flackerte zwei Jahre später noch einmal kurz auf, als Schiedsrichter Babak Rafati versuchte, sich vor einem Bundesliga-Spiel das Leben zu nehmen. Und sonst? Allenfalls ein paar Betroffenheitsworte und hohle Phrasen.
Auf dem Platz spielte die Musik weiter. Lauter denn je. Für Zwischentöne gibt es keinen Platz. Jegliche Störgeräusche werden konsequent ausgeblendet: die Korruption, die das Milliarden-Geschäft längst durchdrungen hat; das Doping, das in kaum einer anderen Sportart derart lasch verfolgt wird; die Tabuisierung von Homosexualität oder psychischen Erkrankungen. Wer sich nicht anpasst und Stärke demonstriert, bleibt auf der Strecke. Und wer sich nicht in Floskeln verliert, sondern tatsächlich etwas zu sagen hat, wird schnell ins Abseits gestellt. Der Ball muss schließlich rollen, damit es ihm der Rubel gleichtun kann. Getreu dem Kahn‘schen Prinzip: Immer weiter.
Auch Per Mertesacker ist in diesem System reich geworden, ziemlich reich. Man könnte sicher meinen, ein paar von seinen Millionen sei auch Schmerzensgeld gewesen. Er muss sich jedenfalls um seine Zukunft keine Sorgen machen. Anders als der Verkäufer, der an Absatzzahlen gemessen wird; oder der Fließbandarbeiter, der sein Pensum in einer vorgegebenen Zeit absolvieren muss, um die Produktion nicht zu gefährden; oder die alleinerziehende Mutter, die Job und Kinderbetreuung zu meistern hat. Auch sie müssen sich in der Leistungsgesellschaft behaupten. Mehr noch: Für sie geht es um die Existenz.
Doch hinter einem Fußball-Millionär steht auch immer ein Mensch. Jemand mit Ecken und Kanten; mit Stärken und auch Schwächen. Die Branche entlarvt sich selbst, wenn sie einen, der offen zu ihnen steht, als Außenseiter deklariert. Verlogenheit trifft es wohl am besten. Denn schon vor Jahren hat eine Studie der Internationalen Spielergewerkschaft „Fifpro“offenbart, dass Profikicker besonders anfällig für psychische Probleme sind. Eine Umfrage unter 607 Akteuren in elf Ländern ergab, dass 38 Prozent von ihnen unter Depressionen und Angstzuständen leidet. Ein erschreckendes Ergebnis, das jedoch keine weitreichenden Reformen in Vereinen und Verbänden zur Folge hatte.
Vielleicht hat Mertesackers Warnung an die Spieler von morgen, für die der Profifußballer nach wie vor ein Traumberuf ist und dies auch bleiben soll, mehr Erfolg. Der FC Arsenal jedenfalls ist um den künftigen Leiter seiner Nachwuchsakademie nur zu beneiden.
Mit der neuen Kolumne „Halbzeit“wollen wir ab heute jeden Mittwoch Themen des Sports abseits des aktuellen Geschehens beleuchten