Ostthüringer Zeitung (Rudolstadt)
Zeit für Geschichten – ein Erlebnisautor erzählt
Zeit-Autor Christoph Dieckmann liest auf Einladung der Saalfelder Goethe-Gesellschaft in der Kreissparkasse
Sportreporter Waldefried Vorkefeld, die Mifa-Traditionen in Sangerhausen und seinen Kassettenrekorder KT 100.
Dabei hatte er als Vierzehnjähriger im Stadion während einer Sportreportage nur mit Knabensopran dazwischengekräht: „Schiebung, Schiebung!“Und weil diese Einmischung in der Übertragung nicht herausgeschnitten worden war, kam er ins Radio und fordert nun das Saalfelder Publikum seinerseits augenzwinkernd zu „schmähenden Zwischenrufen“auf.
Er sei ein „Erlebnisautor“, bekennt der 62-Jährige, „ich bin kein Erfinder sondern ein Erleber, ich gebe Zeit und kriege Geschichten“. Die erzählt er gerne weiter. Einerseits wird er dadurch zum Chronisten der Gegenwart, andererseits stößt er auf Themen wie Heimat, Herkunft, Volk und Identität, Schlagworte, die zunehmend rechtskonservativ und nationalistisch besetzt werden. Das ist ihm fern, im Gegenteil, er beschreibt diese „empathisch aufgeladenen Begriffe, auf die ich nicht verzichten möchte“in Geschichten, die nationale Mythen und historische Entscheidungssituationen hinterfragen, die große Ereignisse im kleinen Alltäglichen ankommen lassen.
Es sind „Geschichten, von denen ich glaube, dass sie bis heute unsere europäische, nicht nur die deutsche Geschichte beeinflussen“, sagt er, und dann beginnt er doch noch zu lesen – aus seinem jüngsten, mit dem Caroline-Schlegel-Preis ausgezeichneten Buch „Mein Abendland“. Bei Dieckmann ist lesen aber mehr als vorlesen: Er spielt die Rollen seiner Protagonisten förmlich, er schafft mit Zitaten im jeweiligen Dialekt Atmosphäre, und wenn es dran ist, singt er auch. Es geht um Altkanzler Helmut Schmidt, eine kaputte Kaffeemaschine, DDRGrenzer, sowjetische Soldatengräber, Pegida und Fußball.
Aus den geforderten Zwischenrufen wird Zwischenapplaus und schließlich ein Gespräch zwischen Publikum und Autor. „Alles Erinnern ist Autobiografie“, erklärt Dieckmann das „emotionale Gedächtnis aller Menschen“. Wenn Leser oder Zuhörer sich und ihre Erlebnisse in den Reportagen wiederfänden, freue er sich.
Wiedererkennungsgelächter erzeugen Dieckmanns Reportagen vor allem bei Lesungen im Osten Deutschlands. „Der Osten ist medial westdeutsch übermalt“, bedauert er, dass „der Westen sich aber nicht als Westen, sondern als Deutschland wahrnimmt.“Er plädiere weniger für die kollektive Betrachtung als für individuelle: „Vieles ist in die Aktivität des einzelnen Menschen gegeben.“Wieder Nicken, und weil diese Aktivitäten in Dieckmanns Reportagen Heimat, Volk und Identität menschlich und weltoffen zeichnen, bildet sich dann eine Schlange am Bücher- und Signiertisch.