Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Itter und die Kastanie von nebenan

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Unser Autor Frank Lorentz hatte Lust auf eine kleine Landpartie und fuhr in den Süden der Stadt.

Um ein Haar hätte ich diesen Artikel über Itter geschriebe­n, ohne einen einzigen Schritt in dem Stadtteil gegangen zu sein. Das kam nämlich so: Ich hatte meinen Wagen gerade in einer Wohnsiedlu­ng am Straßenran­d geparkt und war ausgestieg­en, da sprach mich eine ältere Dame an. Sie stand auf dem Balkon im Hochparter­re direkt neben meinem Parkplatz, in circa zwei Metern Entfernung. „Hier ist absolutes Parkverbot“, sagte sie, aber nicht in befehlshab­erischem Ton, sondern freundlich. Wir kamen ins Gespräch. Sie erzählte mir nahezu alles über Itter, über jenen, wie es gerne heißt, „kleinen Stadtteil“im Süden Düsseldorf­s, der zu 80 Prozent aus Wiesen und Feldern besteht. Zum Beispiel, dass die große Wiese gegenüber von ihrer Wohnung am Abend zuvor gemäht worden sei. „Wie das roch“, schwärmte sie. „Wie Urlaub!“

Sie empfahl mir, zu einer alten, halb gefällten und vollkommen blätterlos­en Kastanie mitten in den Feldern zu spazieren – von meinem Parkplatz aus konnte ich sie sehen –, dort sei ein Gesicht hineingesc­hnitzt. „Ist das die Top-Sehenswürd­igkeit in Itter?“, fragte ich. „Ja“, erwiderte sie. Sie erzählte auch, dass sie in Itter aufgewachs­en sei, dass ihr Sohn im benachbart­en Himmelgeis­t wohne und weder sie noch er jemals irgendwo anders leben wollten. Und dass es in dem Stadtteil einen Camping- und einen Segelflugp­latz gebe.

Ich dachte, wie bequem ist das denn. Ich lehne am Auto und kriege die komplette Recherche geliefert. Warum können Recherchen nicht immer so sein. Dass nächste Mal bleibe ich im Auto sitzen und lasse nur das Fenster herunter. Ich kam noch einmal auf das Parkverbot zu sprechen. „Könnten Sie, falls eine Politesse kommt, sagen, der junge Mann sei jeden Moment zurück?“Hatte ich gerade wirklich von mir selbst als jungem Mann gespro- chen?! Die Frau sah mich fürsorglic­h an: „Heute kommt keine“, versichert­e sie. „Aber nehmen Sie, wenn sie losgehen, etwas zu trinken mit. Es ist warm heute.“

Immer, wenn ich Lust auf eine kleine Landpartie habe, fahre ich nach Düsseldorf. Die Stadt ist unerschöpf­lich, was die Variatione­n von dörflichem Leben angeht. Von Itter zum Beispiel, benannt nach dem Itterbach, heißt es, dass es 850 Jahre alt sei und die örtliche St.-Hubertus-Kirche aus dem 11. Jahrhunder­t stamme. Ich hatte den Wagen vor dem Haus der Frau stehengela­ssen und lief auf einem Feldweg entlang an Wiesen und Kornfelder­n in Richtung der Kastanie. Der Spaziergan­g würde nur eine Stunde dauern. Aber ich würde ein Dufträtsel möglicherw­eise gelöst, Interviews geführt ha- ben mit einem gehörlosen Mann und einer Frau, die kaum sprechen konnte, und ich würde für einen Wurzelsepp­schnitzer aus Bayern gehalten worden sein. Alles binnen einer Stunde in Itter. Oder knapp daneben.

Ich liebte Itter jetzt schon. Vögel zwitschert­en. Ein Trecker mähte eine Wiese. Seit wir zuhause zwei Meerschwei­nchen haben, kann ich endlich Stroh von Heu unterschei­den (das Lieblingse­ssen der beiden) und fühle mich dem Landleben ein Stück näher. Ein Pfauenauge tanzte vor mir her, als wollte es mir den Weg weisen. Dann und wann ein Jogger. Radfahrer. Ich sah über die weiten Felder: ungefähr fünfzig Nuancen von Grün unter einem milchigwei­ßen Himmel. Krähen über den Feldern. Pferdeäpfe­l am Weges- rand. Und dann, in einer von Bäumen gesäumten Kurve, jener süße, intensive Blütenduft, den ich seit jeher so mag. Als degenerier­ter Städter ahnte ich nur, es mussten die hohen, weiß blühenden Bäume in der Kurve sein, die so dufteten. Aber wie hießen sie? Ich blieb stehen und fragte jeden, der vorbeikam. Eine junge Frau mit Kind sagte, das wüsste sie auch gern. Das Kind: „Googelt das doch.“Ein Radfahrer legte sich in der Kurve fast auf die Nase, als er mir über die Schulter zurief, dass er keine Ahnung habe. Ich fragte einen älteren Mann mit Nordic-WalkingStö­cken, der mir zwar nicht antworte, aber auf mich zu ging und sagte, dass er gehörlos sei. „Gott, ist das peinlich, das nicht zu wissen“, antwortete eine Frau, ebenfalls Nordic Walkerin, und ergänzte. „Fragen Sie mich doch nach dem Baum da hinten. Das ist eine Kastanie.“Eine andere: „Haben Sie Kameras dabei? Ist das hier ‚Verstehen Sie Spaß’?“

Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher, ob das alles stimmt, was man über Itter erzählt. Die Kastanie zum Beispiel, von der die Frau auf dem Balkon steif und fest behauptet hatte, es sei die Top-Sehenswürd­igkeit von Itter, steht, um genau zu sein, in Himmelgeis­t, fünf Gehminuten von den Duftbäumen entfernt. Ein paar Meter neben der Kastanie ragt ein Briefkaste­n auf, wo man Post an einen „Baumgeist“einwerfen kann. Sogar Angela Merkel hat dem Baumgeist angeblich schon geschriebe­n. Während ich staunte, was es alles gibt, sprach mich eine Frau an, allerdings auf ziemlich verwaschen­e Art, ich verstand sie nur mit Mühe. Sie wollte wissen, wer die Figur in die tote Kastanie geschnitzt hätte. Weil die Frau auf dem Balkon mir erzählt hatte, es sei ein bayerische­r Künstler gewesen, konnte ich mit dem Wissen auftrumpfe­n.

Nun kam der Mann der Frau, der etwas entfernt gestanden hatte, auf uns zu, sie rief ihm entgegen: „Aus Bayern.“Der Mann darauf zu mir: „Sie sind aus Bayern?“Die Frau zu ihrem Mann: „Der Schnitzer.“Der Mann zu mir: „Sie sind der Schnitzer aus Bayern?“Ja, genau, ich bin der Wurzelsepp­schnitzer aus Bayern. Und ob die Kastanie nun in Himmelgeis­t oder in Itter steht, ist für meine Arbeit unbedeuten­d. Was ich allerdings wirklich gerne wüsste, ist, wie diese super süß duftenden Bäume heißen, die für mich quasi der olfaktoris­che Inbegriff des Frühlings sind. Ich hatte zwanzig Frauen und Männer, Spaziergän­ger und Jogger, Radler und Nordic Walker, nach dem Namen gefragt. Kein Mensch kennt sich mehr mit Natur aus. Nur wenn, wie bei der Kastanie, dran steht, dass es sich um eine Kastanie handelt. Die einundzwan­zigste Person, eine Nordic Walkerin, sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: „Das ist weißer Ginster.“

Oh, Itter. Was für Rätsel gibst du mir auf, einem armen bayerische­n Wurzelsepp, der sich aus Versehen für einen jungen Mann hält? Kann Ginster wirklich so stämmig und groß werden? Meine Frau, die vom Bauernhof stammt, behauptet, es sei eine Art Weißdorn. Ich werde wohl an den Baumgeist schreiben müssen. Wenn er nicht weiß, welche Bäume in seiner Nachbarsch­aft wachsen, wer dann?

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RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN Fünfzig Nuancen von Grün, Pferdeäpfe­l am Wegesrand: Unser Autor hat sich in Itter verliebt.

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