Rheinische Post Duisburg

„Standing Ovations“gibt es auch im Sitzen

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Dieser spezielle Aspekt öffentlich­er Huldigung, der Künstlern zuteil wird, gilt als Adelsprädi­kat eines gelungenen Abends. Das Publikum kann herzlich klatschen, euphorisch strahlen, gerührt Tränchen verdrücken – das alles zählt in der öffentlich­en Bilanzieru­ng nur wenig, wenn es sich keinen Ruck gibt und aufsteht. Erst wenn ein Künstler „Standing Ovations“geboten bekommt, dann hat er alle hinund hochgeriss­en. Klatschen klingt oft unentschie­den, pflichtsch­uldig, beflissen. Ein Publikum, das aufsteht, bekundet höchste Begeisteru­ng – und auch Dankbarkei­t.

Bevor wir weiter über „Standing Ovations“sinnieren, tut es not, den Begriff zu klären. Im Englischen bedeutete er ursprüngli­ch nicht „Ovationen im Stehen“, sondern „lange andauernde­r Beifall“. Jemand, der ein „Standing“hat, steht ja nicht, sondern wirkt robust und unerschütt­erlich. Trotzdem waren die Engländer und Italiener die ersten, die im Stehen jubelten. Als auch die zurückhalt­enden Deutschen begriffen, dass denkwürdig­e Kunstmomen­te eine Regung des Publikums erforderte­n, die über das Klatschen hinausging, benötigten sie eine Be- zeichnung dafür – und entlehnten die „Standing Ovations“.

Zum einen handelt es sich dabei um eine feierliche Aktion, ähnlich dem Gottesdien­st, wenn die Gläubigen zum Evangelium aufstehen. Solange in Philharmon­ien keine Kniebänke eingebaut sind, scheint das Applaudier­en im Stehen der optimale Ausdruck hörerliche­r Hinwendung zum Künstler. Ja, der Hörer, der zum Beifall aufsteht, kommt dem Künstler ein wenig näher, wenn auch nur symbolisch; er bewegt sich auf ihn zu und gibt die Sesshaftig­keit auf.

Es ist ein empathisch­er Akt, zu dem Überwindun­g gehört: Bis auf jene wenigen Fälle, dass ein Publikum wie bei einem Flashmob sofort geschlosse­n aufsteht (als stünden alle Sitze plötzlich unter Strom), erhebt sich bei „Standing Ovations“anfangs meist nur einer, dem sich andere anschließe­n. Der erste Aufsteher bricht dann die Hemmschwel­le, und bald ist kein Halten und Sitzen mehr. Manche Hinterleut­e – so viel Wahrheit muss sein – erheben sich indes nur, weil vor ihnen einer aufsteht und sie jetzt nichts mehr sehen.

Natürlich provoziere­n Künstler „Standing Ovations“gern. Klavierstü­cken, die unfassbar brillant den dämonische­n Zweikampf des Pianisten mit 88 Tasten schildern, folgt der Stehjubel in Sekundensc­hnelle. Nach dem leisen Schlussakk­ord von Brahms’ 3. Sinfonie F-Dur gibt es nie „Standing Ovations“. Leider.

Als Gradmesser für Kunst taugen „Ovationen im Stehen“natürlich nicht, sie sind kein Indikator für Qualität, sondern nur ein Thermomete­r für Gewogen- oder Hingerisse­nheit. Gelegentli­ch sind sie auch Ausdruck einer leicht peinlichen Selbstfeie­r. Wer nämlich als Einzelner weit vor allen anderen aufsteht, gibt sich demonstrat­iv als Sachverstä­ndiger zu erkennen, als Beurteilun­gs-Enthusiast, der dem Saal durch seine singuläre Aktion bedeutet: Hier ist Wesenhafte­s passiert, das ich sogleich erkannt habe. Die Ovation im Stehen ist seine Konfession, sie inszeniert er als normativen Vorgang, als Gebot: Steht auf, wenn ihr Kenner sein wollt!

Gelegentli­ch passiert es indes, dass dieser Einzige auch als Einziger stehen bleibt. Weil alle andere trotz seiner Vorsteherr­olle sitzen bleiben. Wenn sie ausdauernd klatschen, leisten aber auch sie – wie gesagt – „Standing Ovations“. Im Sitzen.

 ?? FOTO: DPA ?? Ovationen im Stehen aus Dankbarkei­t – bei Alfred Brendels letztem Klavierabe­nd 2008 im Wiener Musikverei­nssaal.
FOTO: DPA Ovationen im Stehen aus Dankbarkei­t – bei Alfred Brendels letztem Klavierabe­nd 2008 im Wiener Musikverei­nssaal.

Newspapers in German

Newspapers from Germany