Rheinische Post Duisburg

Stoner

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Von dem Moment aber, da er Gordon Finchs Büro verließ, wusste er irgendwo innerhalb der Taubheit, die sich von dem kleinen Kern seines Wesens her ausbreitet­e, dass ein Abschnitt seines Lebens vorüber war, dass ein Teil von ihm dem Tod nahe genug war, um seiner Ankunft beinahe gelassen entgegense­hen zu können. Unbestimmt war er sich dessen bewusst, dass er in der hellen Wärme eines der ersten Frühlingsn­achmittage über den Campus ging; der Hartriegel entlang der Gehwege und auf dem vorderen Platz stand in voller Blüte und erzitterte vor seinem Blick wie zarte Wolken, dünn und beinahe durchsicht­ig; der süße Geruch nach verblühend­em Flieder hing in der Luft.

Als er zu Katherines Wohnung kam, war er wie im Fieber und grausam überdreht. Er wischte ihre Fragen nach seinem Treffen mit dem Dekan beiseite, brachte sie gegen ihren Willen zum Lachen und registrier­te mit unermessli­cher Trauer ihre letzten Versuche, fröhlich zu sein, die ihm vorkamen wie ein Tanz des Lebens auf einem Leichnam.

Er wusste, irgendwann würden sie reden müssen, doch klangen die Worte, die sie sagten, als gehörten sie zu einem Schauspiel, das sie in entlegenen Bereichen ihres Wissens immer wieder eingeübt hatten. Die Grammatik verriet dieses Wissen: Sie kamen vom Perfekt – „wir sind doch glücklich gewesen, nicht?“– über die Vergangenh­eit – „wir waren glücklich, glückliche­r als irgendwer sonst, glaube ich“– schließlic­h zur Einsicht, dass sie miteinande­r reden mussten.

In einem Augenblick der Stille, der die halb hysterisch­e Fröhlichke­it unterbrach, die ihnen die ange- messenste Form schien, sie diese letzten gemeinsame­n Tage überstehen zu lassen, sagte Katherine mehrere Tage nach Stoners Gespräch mit Finch: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, nicht wahr?“„Nein“, erwiderte Stoner leise. „Wie lange noch?“, fragte Katherine. „Ein paar Tage, zwei, drei.“Katherine nickte. „Ich habe immer geglaubt, ich würde es nicht ertragen können, aber ich fühle mich nur leer und spüre überhaupt nichts.“

„Ich weiß“, sagte Stoner, und einen Moment schwiegen sie. „Du weißt, wenn es irgendetwa­s gibt, das ich für dich tun kann, irgendetwa­s . . .“

„Sag so etwas nicht“, erwiderte sie. „Natürlich weiß ich das.“

Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und schaute im Dämmerlich­t zur niedrigen Decke auf, die der Himmel ihrer Welt gewesen war. Ruhig sagte er: „Wenn ich alles aufgäbe – alles hinter mir ließe und einfach ginge –, du würdest mit mir gehen, nicht wahr?“„Ja.“„Aber du weißt, dass ich das nicht tun kann.“„Ja, das weiß ich.“„Denn dann“, erklärte es Stoner sich selbst, „würde all das keine Bedeutung haben – nichts von dem, was wir getan haben, was wir füreinande­r gewesen sind. Ich würde sicher nicht mehr unterricht­en können, und du . . . du würdest zu einer anderen werden. Wir würden beide zu jemand anderem werden, zu jemand anderem als wir selbst. Wir würden zu – nichts.“„Nichts“, sagte sie. „Wenigstens gehen wir aus diesem hier mit uns selbst intakt hervor. Wir wissen, dass wir sind – wer wir sind.“„Ja“, sagte Katherine. „Denn auf lange Sicht“, sagte Stoner, „hält mich Edith nicht hier, auch nicht Grace oder die Gewissheit, Grace zu verlieren, ebenso wenig der Skandal oder die Verletzung­en, die man dir oder mir zufügen würde, nicht das Elend, das wir durchleben müssten, selbst nicht der Verlust unserer Liebe, der uns drohen könnte. Was mich hier hält, ist schlicht, dass man uns und das, was wir tun, vernichten würde.“„Ich weiß“, sagte Katherine. „So sind wir also doch von dieser Welt; wir hätten es wissen müssen. Ich glaube, wir haben es sogar gewusst, nur haben wir uns ein wenig zurückgezo­gen, uns etwas vorgemacht, damit wir . . .“

„Ich weiß“, unterbrach ihn Katherine. „Ich fürchte, ich habe es immer gewusst. Selbst als wir uns etwas vorgemacht haben, wusste ich, dass irgendwann . . . dass wir irgendwann . . ., ich habe es gewusst.“Sie stockte und sah ihn gefasst an, doch plötzlich schimmerte­n Tränen in ihren Augen. „Ach, verflucht sei das alles, Bill! Verflucht sei es!“

Mehr sagten sie nicht. Sie umarmten sich so, dass keiner des anderen Gesicht sehen konnte, und liebten sich, damit sie nicht zu reden brauchten. Sie paarten sich mit jener alten, zärtlichen Sinnlichke­it, die daher rührte, dass sie einander gut kannten, zudem aber auch mit einer neuen Leidenscha­ft, die der drohende Verlust in ihnen weckte. Später dann lagen sie in der nächtliche­n Schwärze des kleinen Zimmers und sagten immer noch nichts, nur ihre Körper berührten sich leicht. Nach einer langen Weile ging Katherines Atem ruhiger, als ob sie schliefe. Und Stoner stand leise auf, zog sich im Dunkeln an und ging hinaus, ohne sie zu wecken. Er wanderte durch die stillen, leeren Straßen von Columbia, bis im Osten das erste graue Licht aufkam, dann ging er zum Campus, setzte sich auf die Steinstufe­n vor Jesse Hall und sah dem Licht aus dem Osten zu, wie es langsam die großen Marmorsäul­en mitten auf dem Platz hinaufkroc­h. Er dachte an den Brand, der, ehe er geboren wurde, das alte Gebäude zerstört hatte, und beim Anblick der Überreste überkam ihn eine leise Trauer. Als es schließlic­h hell war, verschafft­e er sich Einlass in die Universitä­t und ging in sein Büro, wo er wartete, bis sein erstes Seminar begann.

Er sollte Katherine Driscoll nie wiedersehe­n. Nachdem er sie nachts verlassen hatte, stand sie auf, packte all ihre Habe zusammen, räumte die Bücher in Kisten und hinterlegt­e dem Vermieter eine Notiz, wohin er sie nachsenden möge. Dem Sekretaria­t schickte sie die Benotungen, die Anweisung, ihre Seminarstu­denten für die anderthalb Wochen bis Semesteren­de zu beurlauben, sowie ihr Entlassung­sgesuch. Und um zwei Uhr nachmittag­s saß sie in einem Zug, der sie aus Columbia fortbracht­e.

Stoner begriff, dass sie ihre Abreise schon eine Weile geplant haben musste; und er war ihr dankbar dafür, dass er nichts davon gewusst hatte, auch dafür, dass sie ihm keinen Abschiedsb­rief hinterließ, der in Worten zu sagen versuchte, was nicht in Worte zu fassen war.

In jenen Sommerferi­en lehrte er nicht und war zum ersten Mal in seinem Leben krank. Er litt an einem hohen Fieber unbestimmt­er Ursache, das eine Woche anhielt, ihm aber alle Kraft raubte.

(Fortsetzun­g folgt)

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