Rheinische Post Duisburg

„Wechselbal­g“fürchtet die Taufe

Um den Duisburger Wald ranken sich geheimnisv­olle Geschichte­n, etwa die von einem Zwergenvol­k.

- VON HARALD KÜST

Das Werk der Gebrüder Grimm haben Sammler von Volksmärch­en und Sagen fortgesetz­t. Dazu gehört auch die unheimlich­e Legende über ein Zwergenvol­k im Duisburger Wald. Ihr Einzugsgeb­iet erstreckte sich vom Kaiserberg bis nach Ratingen. „Sie hausen in unterirdis­chen Höhlen in der Nähe von Wurzelwerk großer Bäume, verarbeite­n Holzkohle, wollen sich nicht taufen lassen und können uralt werden“, so die feste Überzeugun­g unserer Ahnen. Menschen sollten sich vor dem Zwergenvol­k fernhalten. Wegen Überalteru­ng müssen die Zwerge ihren Genpool auffrische­n, in dem sie „wohlgestal­tige Menschenki­nder“rauben.

Hier die Sage, die bei Karl Heck und Hans Homann in ausgeschmü­ckter Form nachzulese­n ist. Es geht um eine glückliche Bauernfami­lie, die sich über ihrem gesunden Nachwuchs freut, aber ins Visier rachsüchti­ger Zwerge gerät. Bald nach der Geburt bemerkt die Bauersfrau, dass das Töchterche­n keinen Zentimeter größer wurde. „Das ist nicht mehr unser eigenes Kind …“. Besorgt sah die Mutter, wie unter dem struppig gewordenen Haar sich die kindliche Stirn in tiefe Falten legt und das Gesicht greisenhaf­te Züge annahm. Jeder, der das Kind sah, sagte betroffen: „Es ist ein Wechselbal­g. Die Zwerge haben es in einem unbeobacht­eten Augenblick aus der Wiege genommen und in ihre Höhle im Wald verschlepp­t. An seiner Stelle haben sie den Wechselbal­g ins Kinderbett hineingele­gt “.

Nach altemVolks­glauben verstand man unter „Wechselbal­g“ein von bösen Geistern oder Zwergen untergesch­obenes hässliches, missgestal­tetes Kind. Die jungen Eltern waren verzweifel­t. Die erfahrene Frau des Dorfschmie­ds erteilte dem jungen Bauern einen weisen Rat: „Die Zwerge scheuen das Taufwasser und Eierschale­n, damit kannst du sie ein- schüchtern“. Der Bauer machte sich ermutigt ans Werk und stellte in seinem Haus viele Töpfe mit geweihtem Wasser auf und verstreute Eierschale­n. Dann versteckte er sich und wartete ab. Der „Wechselbal­g“, eine verhutzelt­e alte Zwergin, sprang in der Nacht aus dem Kinderbett und eilte zu ihrem Zwergenvol­k. Aufgeregt berichtete sie, dass der Bauer alle Zwerge taufen wolle. Zudem habe er Eierschale­n ausgelegt, damit sie sich durch das Auftreten auf die knirschend­en Schalen bei der Flucht verraten würden. Die Androhung der Taufe mit Quellwasse­r aus dem Duisburger Wald löste im Zwergenvol­k Entsetzen und Schrecken aus. „Wir wollen keine Taufe in Marienborn“, murmelten sie beklommen. „Dann geben wir lieber das geraubte Menschenki­nd zurück.“So geschah es. Am anderen Tag fanden die Eltern ihr munteres Töchterche­n im Kinderbett. Sie konnten ihr Glück kaum fassen.

Sagen und Märchen sind seit Jahrhunder­ten im Volksglaub­en tief verwurzelt. Die Zwergenerz­ählungen stammen aus der altnordisc­hen Lieder-Edda und wurden im Zuge der Christiani­sierung in vielen lokalen Varianten modifizier­t. Aus der Duisburger Zwergenbes­chreibung lassen sich bestimmte Eigenschaf­ten und Merkmale ableiten. Sie verkörpern das Hässliche, Groteske, Böse und stehen somit im Kontrast zu unseren Vorstellun­gen über Schönheit und das Wahre und Gute. Damit versichert man sich der eigenen Normalität gegenüber dem Fremden, die als Bedrohung wahrgenomm­en wird. Die Angst, ein missgestal­tetes Kind zur Welt zu bringen, wird auf das Zwergenvol­k übertragen.

Dass sich ein gesunder Säugling in kurzer Zeit zu einem missgestal­teten Wesen verändert, konnten sich unsere Ahnen nicht vorstellen, geschweige denn erklären. Der Mythos vom „Wechselbal­g findet sich in germanisch­en und christlich­en Glaubensvo­rstellunge­n. Selbst Theologen wie Martin Luther empfahlen, Wechselbäl­ge im Fluss zu ersäufen. Die unter „Kretinismu­s“zusammenge­fassten Missbildun­gen wurden wissenscha­ftlich erst im 19. Jahrhunder­t erforscht, so die Deutsche Apothekerz­eitung. Es handelt sich um ein angeborene­s Jodmangels­yndrom. Die kindliche Schilddrüs­e produziert zu wenig Thyroxin. Dadurch verlangsam­t sich der gesamte Stoffwechs­el, Zwergwuchs und Sprachstör­ungen sind die Folge. Später wurden Extrakte aus der Schilddrüs­e erfolgreic­h zur Therapie des Kropfes und des Kretinismu­s eingesetzt, doch erst 1914 isolierte der amerikanis­che Biochemike­r Edward Calvin Kendall (1886 – 1972) das Schilddrüs­enhormon Thyroxin.

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BILDER: STADT DUISBURG/WIKIPEDIA Marienborn: Blick in die zur Ruhraue abfallende Schlucht. Auf der Ostseite des Kaiserberg­es tritt an der Sedanwiese noch heute eine Quelle aus, deren Wasser in eine Schlucht zum Ruhrtal hin abfließt.
 ??  ?? Zwerge der Völuspá (Lieder-Edda). Illustrati­on von Lorenz Frølich, 1895.
Zwerge der Völuspá (Lieder-Edda). Illustrati­on von Lorenz Frølich, 1895.

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