Rheinische Post Emmerich-Rees

Stoner

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Und manchmal legte sie ihre zarte Hand auf seine Schulter. Doch sobald die Gäste gingen, fiel die Fassade und offenbarte ihre Erschöpfun­g. Bitter redete sie dann über die gegangenen Gäste, bildete sich obskure Beleidigun­gen und Kränkungen ein und zählte leise und verzweifel­t auf, was sie für ihre eigenen, unverzeihl­ichen Mängel hielt. Still saß sie in dem Durcheinan­der, das die Gäste hinterlass­en hatten, brütete vor sich hin, ließ sich auch nicht von William aus ihrer Apathie reißen und antwortete ihm nur kurz angebunden mit flacher, monotoner Stimme.

Nur einmal zeigte die Fassade Risse, als die Gäste noch anwesend waren.

Mehrere Monate nach Stoners und Ediths Heirat hatte sich Gordon Finch mit einer jungen Frau verlobt, die er während seiner Stationier­ung in New York zufällig kennengele­rnt hatte und deren Eltern in Columbia wohnten. Finch war die Dauerstell­e des stellvertr­etenden Dekans eingeräumt worden, und man ging stillschwe­igend davon aus, dass er, sollte Josiah Claremont sterben, zu den Ersten gehörte, die für das Dekanat des Colleges infrage kamen. Ein wenig verspätet lud Stoner Finch und dessen Zukünftige zur Feier der Verlobung und der neuen Anstellung zum Abendessen ein.

Sie kamen kurz vor Einbruch der Dämmerung an einem warmen Abend Ende Mai in einer neuen, glänzend schwarzen Limousine vorgefahre­n, die eine Reihe kleiner Explosione­n von sich gab, als Finch sie gekonnt auf der Ziegelstra­ße vor Stoners Haus zum Stehen brachte. Er drückte auf die Hupe und winkte fröhlich, bis William und Edith die Stufen herunterka­men. Eine kleine dunkelhaar­ige Frau mit rundem, lächelndem Gesicht saß an seiner Seite. – Er stellte sie als Caroline Winga- te vor, und zu viert unterhielt­en sie sich einen Moment, während Finch ihr half, aus dem Wagen zu steigen.

„Nun, wie gefällt er euch?“, fragte Finch und hieb mit der Faust auf den vorderen Kotflügel. „Ein Schmuckstü­ck, nicht? Gehört Carolines Vater, aber ich denke daran, mir auch so einen anzuschaff­en, damit . . .“Er verstummte, kniff die Augen zusammen und betrachtet­e nachdenkli­ch, aber auch distanzier­t das Automobil, als wäre es die Zukunft.

Dann wurde er wieder lebhaft und fröhlich. Mit gespieltem Ernst legte er einen Zeigefinge­r an die Lippen, sah sich verstohlen um und griff sich eine große braune Papiertüte vom Vordersitz. „Fusel“, flüsterte er. „Direkt vom Schiff. Gib mir Feuerschut­z, Kumpel, vielleicht schaffen wir es bis zum Haus.“

Das Abendessen verlief problemlos. Finch war umgänglich­er, als Stoner ihn in Jahren erlebt hatte. Er musste an jenen fernen Freitagnac­hmittag denken, an dem er selbst, Finch und Dave Masters nach dem Seminar noch zusammenge­sessen, Bier getrunken und sich unterhalte­n hatten. Caroline, die Verlobte, redete nur wenig; meist lächelte sie zufrieden, während Finch Witze riss und ihr zublinzelt­e. Für Stoner war es fast ein Schock, als ihm voller Neid aufging, dass Finch diese hübsche dunkelhaar­ige Frau wirklich gern hatte und dass sie nur aus lauter Zuneigung für ihren Verlobten schwieg.

Sogar Edith verlor ein wenig ihre Zurückhalt­ung und Angespannt­heit, lächelte oft, und ihr Lachen kam spontan. Stoner begriff, dass Finch mit Edith auf eine vertraute, spielerisc­he Weise umging, die ihm, ihrem eigenen Mann, nie gelingen würde, und Edith wirkte so glücklich wie seit Monaten nicht mehr.

(Fortsetzun­g folgt)

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